In seinen Ausführungen zur Vortragsweise von Chopins Werken betont Karol Mikuli die Bedeutung der musikalischen Analyse. Das analytische Verstehen von Musik ist für ihn nicht bloß abstrakt-theoretisches Wissen, sondern Voraussetzung für einen adäquaten interpretatorischen Zugriff. Das leuchtet besonders vor dem Hintergrund der Notation im 19. Jahrhundert ein, die noch nicht den Anspruch hatte, alle für das intendierte klangliche Resultat relevanten Vortragsnuancen minutiös abzubilden. Der Vortragende sollte und musste namentlich den Geist der Musik erfassen und daraus Entscheidungen für die Interpretation ableiten. Das gilt auch und im Besonderen für Chopin, der nicht selten auf nicht notierte Usancen zurückgreift. Sein Notentext ist vor allem dann herausfordernd, wenn es um gesangsführende mehrstimmige Strukturen geht. Diese können bei Chopin explizit manifest ausnotiert sein, „halbmanifest“, indem nur vereinzelt Töne durch zusätzliche Hälse hervortreten, oder latent, was bedeutet, dass die eigentlich beabsichtigte Mehrstimmigkeit quasi vollständig hinter der Notation verborgen bleibt. Letzteres verlangt eine Transferleistung vom Interpreten, denn es gilt, eigenständig Zusammenhänge zu erfassen und gesanglich umzusetzen, die der Notentext nicht (prominent) veranschaulicht. Genau an dieser Stelle zeigt sich die exponierte Bedeutung der musikalischen Analyse – nämlich als Bindeglied und eminente Schnittstelle zwischen historischer Musikwissenschaft und musikalischer Praxis. Denn: Bleiben Zeugnisse zu Chopins Spiel hinsichtlich der pianistischen Realisierung oft vage, so fördert das Aufspüren von latenter Mehrstimmigkeit konkrete Stellen zu tage, die eine gesangliche Ausführung nahelegen. In diesen Fällen ist die musikalische Analyse der methodisch entscheidende Ansatz, um den Schritt vom Quellenstudium in die Praxis vollziehen zu können.
Eine plausible Möglichkeit, Gesanglichkeit bei Chopin auszudrücken, liegt häufig im Überlegato, bei dem Töne über deren notierte Dauer hinaus ausgehalten werden.
Meine Präsentation wird eine Reihe derartiger Stellen sowohl theoretisch als auch praktisch am Instrument exemplifizieren. Weitere interpretatorische Erkenntnisse, die beleuchtet werden, betreffen die dynamische Ebene und das rechte Pedal.
Diskussion im Anschluss an die beiden Impulsreferate von Peter Dejans und Ludwig Holtmeier.
This presentation reveals some of the artistic and critical discoveries and challenges encountered in the process of exploring Émile Sauret through the making of a world premiere recording series of his 24 Études Caprices, op.64. Partially recorded on his c.1685 Stradivari violin, the project spanned four discs and has been issued as a series by Naxos between 2017 and 2020.
The violin virtuoso, composer and pedagogue, Émile Sauret carved himself an enviable reputation during his lifetime. Sometimes described as a successor to Paganini, he was acclaimed by some of the greatest musicians of his era, including Brahms, Liszt, Tchaikovsky and Sarasate. Today, however, Sauret’s work seems very little known, and he is predominantly remembered by violinists for the fiendishly difficult cadenza he composed to Paganini’s Violin Concerto no. 1.
During his 12-year professorial tenure at the Royal Academy of Music between 1891 and 1903, Sauret produced in 1902 his last major pedagogical publication - the 24 Etudes Caprices, op.64, published by Simrock. These works are a testament to his technical finesse and are dedicated to his student, the English virtuoso Marjorie Hayward.
The Études Caprices are inundated with specific dynamic, fingered, bowed indications and infused with an extraordinary density of variations, only rarely used for show, rather drawing the ear away from the repetition at the core of an étude. For the player, this unending variety, and the resultant length of the series (amounting to nearly four-and-a- half-hours of continuous music), is an invocation to draw every resource of expressiveness from the instrument.
Die Zuschreibung von Affekten zu bestimmten Tonarten wird im 18. Jahrhundert, wie auch schon im vorhergehenden überlieferten musikgeschichtlichen Diskurs, kontroversiell diskutiert – man bedenke etwa die widersprüchliche Behandlung des Themas in Traktaten Matthesons und Heinichens. Die Einnahme einer künstlerisch-praktischen Perspektive auf das Konzept der Tonartenaffekte bietet die Möglichkeit, unabhängig von einer qualitativen Wertung des Konzeptes die Frage zu stellen, inwiefern sich verschiedene Tonarten akustisch voneinander unterscheiden. Im Bereich des historisch informierten praktischen Musizierens finden sich Aspekte, die einen Einfluss auf das klangliche Erscheinungsbild einer Tonart ausüben. Offene Saiten von Streichinstrumenten, die Temperatur von Tasteninstrumenten sowie instrumentenspezifische Zuordnungen zu Tonarten, wie im Fall der Pauken und Trompeten, tragen zu einer differenzierten Klanglichkeit von Tonarten bei. Das klangliche Erscheinungsbild einer Tonart bietet häufig die Grundlage für die Entwicklung einer assoziativen Tonartensymbolik, die auch unabhängig von der konkreten Besetzung eines Musikstücks ihre Gültigkeit behält. In meinem Vortrag möchte ich die genannten musikalisch-praktischen Aspekte vorstellen und ihren Einfluss anhand von Kompositionen des frühen 18. Jahrhunderts beispielhaft untersuchen.
Mikrotonalität ist bekanntermaßen ein spannendes und reichhaltiges Feld für kompositorische Erkundungsarbeit und bietet für die Musiktheorie vielfältige Anknüpfungspunkte – sei es im Rahmen der Analyse mikrotonaler Kompositionen oder in Bezug auf allgemeine Grundlagen wie z.B. Stimmungssysteme. Im Bereich des satztechnischen Unterrichts spielt Mikrotonalität bislang allerdings kaum eine Rolle. Der Workshop will hier zur Erschließung entsprechender Möglichkeiten beitragen. Verbunden mit einer Einführung in ausgewählte mikrotonale Kompositionstechniken sollen Ideen und Möglichkeiten für die praktische Arbeit mit mikrotonalen Klängen im Unterricht vorgestellt werden. Der Einsatz digitaler Hilfsmittel wird dabei eine wichtige Rolle spielen und es soll Raum geben für gemeinsames Experimentieren.
Anton Reichas (1770-1836) 36 Fugen können sowohl strukturell analysiert werden, als auch ausgehend von den Kompositions- und Musiktheorien des Autors selber, welche er in seinen Lehrwerken beschreibt. Dies ist insbesondere in der Entstehungszeit zu dem Jahrhundertwechsel zum 19. Jahrhundert unüblich, da die Zeit der Fugenkompositionen als vergangen angesehen wurden. Reicha versuchte hierbei die Kunst der Fugenkomposition in die neue Zeit zu retten und konnte dies in den letzten Jahren seines Lebens als Professor für Kontrapunkt und Fuge am Conservatoire in Paris an Schüler wie Belioz, Liszt, Franck und Gounod weitergeben.
Die einzelnen Fugen stellen jeweils ein kompositorisches Problem in den Mittelpunkt und diese werden durchgeführt. Die Fugen können hierbei eingeteilt werden in solche, welche die Harmonik und Verwandschaften ins Zentrum stellen, solche welche nicht-fugentypische Themen beleuchten und solche welche formale Aspekte thematisieren. Auffallend sind des weiteren Reichas Experimente mit ungeraden Taktarten, welche in der polymetrischen Fuge 20 gipfeln, oder auch das Thema der Fuge 18, welche aus einer 34-mal wiederholten Note besteht, oder eine Fuge mit 6 Subjekten im mehrfachen Kontrapunkt. Er zitiert in seinen Fugen Themen von Mozart, Haydn, Scarlatti, Frescobaldi bis hin zu Bach.
Die Rezeption seiner Fugen war zur Reichas Zeit vernichtend, jedoch können sie heute als Anschauungsmaterial dienen, für musikalische Mittel, welche erst viel später Eingang in die allgemeinen benutzen Kompositionsmittel gefunden haben.
Insbesondere auch die Gedanken zur Fuge, welche vom Komponisten selbst stammen, bringen hierbei Licht ins Dunkel.
Die Arbeitsgemeinschaft „Musikschulen/-pädagogik“ möchte mit diesem Workshop das Thema der vor- und außerhochschulischen Musiktheorieangebote an staatlichen, kommunalen und privaten Musikschulen sowie in weiteren Bereichen der musikalischen Unterrichtspraxis in den Blick nehmen. Dabei reicht die Spanne von musiktheoretischen Anteilen in der Musikalischen Früherziehung über die Arbeit mit musizierenden Jugendlichen und Erwachsenen im Instrumentalunterricht, in Chören und Ensembles usw. bis hin zur Studienvorbereitenden Ausbildung. Mit der Unterstützung der GMTH unternehmen wir derzeit den Versuch, uns mithilfe einer Recherche-Aktion einen Überblick zu verschaffen und Kontakte zu den Lehrkräften in diesen Bereichen herzustellen.
Neben einigen praktischen Anwendungsbeispielen zur Integration musiktheoretischer Inhalte und historischer Improvisationstechniken in die instrumentalpraktische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen möchten wir in unserem Workshop erste Erkenntnisse aus unserem Recherche- Projekt vorstellen, die verschiedenen Angebotsformen diskutieren und eine Vernetzung von Akteuren vorantreiben. Der Workshop soll auch Ausgangspunkt für den Neustart der Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft sein und ein offenes Diskussionsforum bieten für den Austausch inhaltlicher Ideen und Strategien zur Etablierung des Fachs Musiktheorie in Musikschulen und ähnlichen Bildungsangeboten.
Das «Lassus Tricinium Project» ist eine digitale Edition der «Geistlichen Psalmen» von Orlando und Rudolph di Lasso. Die Kompositionen basieren auf den «Psalmen Davids» von Caspar Ulenberg. Vorlage dieser Edition ist das Digitalisat des Drucks von 1588 der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die Tricinien wurden im **kern Format mit der Humdrum Syntax ediert und sind auf GitHub einsehbar.
Dieses Format ermöglicht es, die Tricinien auf einer Website interaktiv zu betrachten, wobei gewisse Parameter durch eine vorgängige fachliche Analyse integriert wurden. Bestimmte Eigenschaften und Merkmale können auf diese Weise auf der Website einfach abgerufen werden. So ist es z.B. möglich die alte Schlüsselung per Knopfdruck in eine heute übliche umzuwandeln, einen Intervallsatz und die Skalenstufen anzuzeigen, den Liedtext aus- und einzublenden, Kadenzen isoliert zu analysieren oder die Klauseln nach bestimmten Kadenzfluchten zu durchsuchen, uvm. Ausserdem ist über IIIF und mit dem Verovio Humdrum Viewer eine direkte Integration der Scans des Münchener DigitalisierungsZentrums gegeben. So kann per Doppelklick auf einzelne Noten die entsprechende Zeile des originalen Drucks angezeigt werden.
Die 50 Tricinien werden damit in einer dynamischen und vor allem interaktiven Art und Weise aufbereitet, die es Forschenden und Studierenden ermöglicht, die Antworten auf spezifische Fragestellungen schnell zu finden und für die Analyse zu nutzen. Studierende beispielsweise, die im Laufe ihrer Ausbildung mit dem Renaissance-Kontrapunkt in Berührung kommen, können mit Hilfe der digitalen Werkzeuge auf der Website die wichtigsten Parameter des musikalischen Satzes – wie die Verwendung der Modi, der Imitationen, des Ambitus und der Textbehandlung – schnell zu erfassen um sie in eigene Stilkopien einzubeziehen.
Der relativ kleine und homogene Corpus der Tricinien eignet sich besonders gut für die Entwicklung computergestützter Werkzeuge, die in späteren Projekten auch für grössere Corpora und komplexere Strukturen angewendet werden könnten.
In meinem Referat wird das Tricinium-Projekt vorgestellt und die Anwendung als methodisches Werkzeug demonstriert. Darüber hinaus werden Perspektiven für eine Weiterentwicklung zur Diskussion gestellt.
Im Gegensatz zur intensiven Auseinandersetzung, die etwa Klavier-, Orchester- und Kammermusikliteratur seitens der Musiktheorie erfahren haben, ist Literatur, die für andere Soloinstrumente als Klavier geschrieben wurde, eher im Hintergrund geblieben. Obwohl sich unter anderem Diether de la Motte der Einstimmigkeit in den Solowerken Johann Sebastian Bachs widmete, gibt es auf diesem Feld insbesondere aus der Perspektive der künstlerischen Forschung noch vieles zu entdecken.
Ein zentraler Aspekt dabei ist die Darstellung von Mehrstimmigkeit in der Einstimmigkeit. Viele Sätze aus Bachs Sonaten und Partiten für Solo-Violine, so zum Beispiel die Allemande aus der Partita in d-Moll für Solo-Violine BWV 1004, sind ausschließlich einstimmig, artikulieren aber eine mitunter komplexe Polyphonie.
Aufgrund dieser Fragestellung habe ich versucht, anhand der eigenen Herstellung einer solchen Partita für Solo-Violine im Stile Bachs herauszufinden, welchen Herausforderungen ich begegne und welche Merkmale und Methoden wichtig sind, um dem Stil eines solchen Werkes möglichst nahe zu kommen. Hieraus ist eine umfangreiche Stilkopie entstanden, von der ich Teile im Rahmen meines Vortrags auf der Geige präsentiere.
Von zentraler Bedeutung zur Erzeugung einer ‚virtuellen‘ Mehrstimmigkeit ist eine Technik, die ich als die Artikulation von „tenue-Stimmen“ bezeichne. Ebenfalls eine wichtige Rolle spielt für die betreffende Stilistik eine enge Beziehung zwischen Interpunktion und Figurierung: In der Allemande der d-Moll Partita wechselt Bach nach jeder formbildenden Kadenz die Figur, mit der er das harmonische Grundgerüst diminuiert. Auch das sogenannte Prinzip der „obligaten Lage“ hat sich als sehr bedeutsam erwiesen. Diese und weitere Techniken und Prinzipien, auf die ich in meinem Vortrag näher eingehe, haben sich bei der Arbeit an der Stilkopie als notwendige Ergänzung zu meinem vorherigen Wissen über Satz- und Formmodelle erwiesen.
Unter den zahlreichen Ton- und Videodokumenten des legendären Pianisten Vladimir Horowitz gibt es einige, in denen er frei improvisiert. Die Aufnahmen, die beispielsweise während seiner Proben in der New Yorker Carnegie Hall vor dem angekündigten Konzertprogramm entstanden sind, geben einen aufschlussreichen Einblick in die musikalische Gedankenwelt des Künstlers. Es sind gleichzeitig seltene Beispiele für ein vom Notentext gelöstes Spiel, denn von zahlreichen anderen Pianist*innen des 20. Jahrhunderts sind nur wenige Improvisationen von Glenn Gould und György Cziffra überliefert, obwohl diese Kunst noch im 19. Jahrhundert ein wesentlicher Teil der Konzertpraxis war. Doch wie verhält es sich mit der Improvisation von Konzertpianist*innen im 20. Jahrhundert?
Im Rahmen der Studie wird folgenden Fragen nachgegangen: Welche stilistischen bzw. kompositorischen Einflüsse sind in den Improvisationen Horowitz‘ erkennbar? Inwiefern beziehen sie sich auf bestimmte Werke – erfüllen die Improvisationen hierfür den Zweck einer virtuosen Einspielübung? Welche Klanglichkeit, welche Harmonik und welche Satzstrukturen bevorzugt Horowitz?
Für eine detaillierte Analyse werden aus den Tondokumenten erstellte Transkriptionen genutzt. Anschließend wird praktisch am Klavier demonstriert, inwiefern Horowitz‘ Ideen als Muster für eigene Improvisationen dienen können.
Literatur:
Schonberg, Harold C., Horowitz Ein Leben für die Musik, München 1992
Feldhordt, Philipp, Czerny und das Fantasieren: eine Untersuchung zum schrittweisen Verschwinden der Klavierimprovisation im 19. Jahrhundert, Folkwang Universität der Künste 2018
Gooley, Dana, Fantasies of Improvisation: Free Playing in Nineteenth-Century Music, Oxford University Press 2018
Die Musiktheorie sieht sich regelmäßig mit der Anwendung des Zeitbegriffs auf musikalische Werke konfrontiert, wenn etwa davon gesprochen wird, dass in einer Abfolge bestimmte musikalische Ereignisse früher oder später als andere stattfinden, dass Zeit manchmal langsamer oder schneller fließen oder scheinbar gar stillstehen kann. Der Zeitbegriff wird dann aber zumeist metaphorisch oder umgangssprachlich, jedoch nicht theoretisch fundiert gebraucht. Man erkennt auch sofort, dass sich ein Zeitbegriff für Musik von der physikalischen (sog. äußeren) Zeit unterscheiden muss, allein schon weil Musik sich auf individuell oder intersubjektiv wahrgenommene Ereignisabfolgen bezieht und damit Grundfragen der Philosophie des Geistes bzw. der Kognitionswissenschaften adressiert: Wie kommt es überhaupt zur Wahrnehmung von Abfolgen und nicht bloß zur Abfolge von Wahrnehmungen?
Der Beitrag stützt sich auf drei grundlegende philosophische Konzepte zur Zeitwahrnehmung, in die kurz eingeführt wird und die anschließend an geeigneten Werkausschnitten illustriert werden, um typische Grundfragen zur Zeitwahrnehmung in der Musik zu reflektieren:
Kant spricht bezogen auf die Zeit von „Form des inneren Sinnes“ (KrV A 33/B 49), dessen interne Dynamik er selbst aber in keiner Weise elaboriert. Eine Philosophie eines inneren Zeitbewusstseins wurde etwa von Edmund Husserl ausgearbeitet und birgt Potential für die Anwendbarkeit auf Musik. Eine der einflussreichsten Theorien der Zeit wurde von dem englischen Philosophen John McTaggart in seinem Aufsatz ‚The Unreality of Time‘ (1908) vorgeschlagen, mit der Intention, die Unwirklichkeit von Zeit zu beweisen. Sein Zeitkonzept unterscheidet sog. A-, B- und C-Reihen und erweist sich bei der Anwendung auf Musik ebenfalls als gewinnbringend. Dass sich die Dimension der Zeit mit der für das menschliche Bewusstsein einfacher erfassbaren Dimension des Raums in Verbindung bringen lässt, ist ein Ausgangspunkt für eine semiotische Theorie von Musik nach Eric Clarke und Charlie Ford (1981), die wiederum auf dem Aufsatz ‚A Theory of Semiotics‘ (1977) von Umberto Eco fußt.
Tempus fugit? Der Beitrag möchte verschiedene Sichtweisen auf das „Fließen von Zeit“ in der Musik aufzeigen und beispielhaft vergleichen und somit zum Nachdenken über den musikalischen Zeitbegriff anstoßen.
Kontrapunktstudien waren für viele angehende Komponistinnen und Komponisten des 18. und 19. Jahrhundert ein grundlegender Teil der musikalischen Ausbildung. Das zeigen nicht nur Berichte in Biografien oder überlieferte Skizzen, sondern dieses Fach wurde auch an Konservatorien oder im Privatunterricht gelehrt. Dabei ist es oftmals schwierig zu ermitteln, welche Bezüge sich zwischen – scheinbar nur für wenige Gattungen bzw. Stile relevanten – fortgeschrittenen Kontrapunkttechniken und dem zeitgenössischen Musikschaffen herstellen lassen. Kurz gesagt: Was lässt sich daran lernen, lässt man explizit imitatorische Gattungen der Kirchenmusik beispielsweise oder Fugen sowie Kanons in sinfonischen Werken etwa außer Acht?
In diesem Vortrag soll am Beispiel des Komponisten César Franck (1822–1890) skizziert werden, welche Verbindungen zwischen seinem Unterricht bei Antoine Reicha und seiner späteren Kompositionspraxis bestehen könnten. Den Ausgangpunkt der Untersuchung bilden Francks Unterrichtsmitschriebe zu einem Kontrapunktlehrgang, den er in Privatlektionen 1835–36 bei Reicha in Paris durchlief. Die Inhalte dieses Unterrichts sollen zunächst kurz vorgestellt werden. In einem zweiten Schritt soll dann anhand von Francks Sinfonie in d-Moll gezeigt werden, dass sich die im Kontrapunktunterricht geübten kompositorischen Verfahren weitgehend mit den Techniken der für seine spätere Kompositionspraxis charakteristischen ‚thematischen Arbeit‘ in Übereinstimmung bringen lassen.
Angesichts des Hypes um Künstliche Intelligenz (KI), ChatGPT & Co. dürfte niemand mehr bezweifeln, dass die Digitalisierung einen tiefgreifenden Wandel in unserer Gesellschaft bewirken wird. Alle Bereiche des privaten, beruflichen und öffentlichen Lebens werden davon betroffen sein und die Hochschulen sind aufgefordert, diesen Wandel aktiv zu gestalten. In der Strategie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wird eine Funktion freier Lehr- und Lernmaterialien (Open Educational Resources bzw. OER) darin gesehen, im Bereich der Bildung eine Chancengerechtigkeit zu fokussieren. OER-Strategien von Bund und Ländern treffen dabei in der Musiktheorie auf personelle und institutionelle Gegebenheiten, die das Fach auf eine ganz neue Art herausfordern. Insbesondere die Einstellungen zu den Lizenzen freier kultureller Bildung (den sog. Creative-Commons-Lizenzen) werden Differenzen offenbar, die zwar sozial- und institutionsgeschichtlich verständlich sind, jedoch alte Ressentiments derart verstärken könnten, dass das Fach Musiktheorie daran zerbricht.
In a concerto by Vivaldi, we expect abundant evidence of compound meter in the 18th-century sense, including arbitrary metrical shifts and phrases with irregular numbers of half bars (Grave 1985). Discussions of Bach (e.g., Marshall 1972, Grave 1985) often lead to similar expectations, but such expectations are false. In the harpsichord concertos, at least, a statistical corpus study (previously presented elsewhere) indicates that metrical shifts are rare and that phrases of four notated bars are prevalent. While the usual markers of compound meter are by no means absent from the harpsichord concertos, their paucity suggests that they may in some cases be instances of sophisticated compositional play.
This paper discusses Bach’s use of 1.5-length bars, or 1.5LB’s, heard measures consisting of three half bars, in the initial solos of several harpsichord concertos. (The term references Wintersgill’s two-length bar, 1936.) Of the set of six concertos BWV 1052-1057, four the first movements are in compound meters; of those, three first solos use 1.5LB’s and the other uses a related technique.
In Vivaldi or Telemann, similar solos would simply reflect business as usual in compound meter. Here, the statistical norms of the works, the identical formal placement of the 1.5LB’s, and their participation in regular, four-(heard)-bar groupings all point to deliberate compositional play.
E. Rautavaara: Étude Op. 42 n. 5 Seconds
Étude Op. 42 n. 1 Thirds
Étude Op. 42 n. 4 Fourths
Étude Op. 42 n. 3 Tritones
Étude Op. 42 n. 6 Fifths
C. Debussy: Étude L 136 n. 4 pour les Sixths
E. Rautavaara: Étude Op. 42 n. 2 Sevenths
C. Debussy: Étude L 136 n. 5 pour les Octaves
This recital investigates the development of piano virtuosity during the 20th century, presenting a combination of the Etudes op. 42 (1969) by the Finnish composer Einojuhani Rautavaara (1928–2016) and a selection from the first Book of Etudes (1915) by Claude Debussy (1862-1918), which served as a source of inspiration for Rautavaara. The decision to focus on two collections of etudes on intervals was influenced by the presence of this form in different historical periods and by the role it has played since the Romanticism to demonstrate virtuosity. The program presents the etudes as a complete set structured in ascending order of intervals, with no repetition, revealing similarities and differences in the composers' approaches to virtuosity and enabling the audience to recognize elements of continuity and innovation with the tradition. The performance of the Etudes will be preceded by a discussion that will reflect on the concept of virtuosity in piano performance by exploring the relationship between contemporary techniques and traditional criteria of technical mastery such as speed, precision, power, and dexterity. By challenging the traditional notion of virtuosity in light of the aesthetic and stylistic changes in modern music, the discussion will reflect on the expectations and the skills required from performers to play this repertoire and be recognized as virtuosos.
This research combines the examination of scores and interviews with pianists, analysis of a practice diary, and impressions from my public performances of Rautavaara's and Debussy's etudes. These concerts will provide an opportunity to explore the impact of this type of virtuosity on the audience and to examine which settings are most effective to showcase this type of virtuosity, including considerations on the type of piano and acoustic.
In der musikalischen Aufführungspraxis ist es normalerweise der Mensch, der das Tempo erzeugt. Innerlich ein Tempo zu etablieren und es an das der mitmusizierenden Personen anzugleichen, ist eine grundlegende musikalische Fähigkeit. Was bedeutet es also, wenn das Tempo von einem technischen System vorgegeben wird? Diese besondere Art der Mensch-Maschine-Interaktion wird einer musikgeschichtlichen, technikgeschichtlichen und medienarchäologischen Betrachtung unterzogen. Zudem wird über eine eigene wissenschaftlich-künstlerischen Studie berichtet, in dessen Rahmen ein eigenes System zur technikgestützten Tempovermittlung entwickelt und in der Praxis angewendet wurde.
https://doi.org/10.14361/9783839465042
In der 1907 erschienenen Harmonielehre von Rudolf Louis und Ludwig Thuille, letzterer ein Schüler J.G. Rheinbergers, findet sich eine sehr umfassende Klassifizierung alterierter Akkorde. Diese basiert zwar auf einer sehr engen Grunddefinition, die nur solche Akkorde einbezieht, die „die Beziehung zur Tonica […] aufrecht erhalten“, dennoch ermöglicht sie schließlich eine Mannigfaltigkeit von mehr als dreißig alterierten Akkorden innerhalb einer Tonart, die das klassische Standardrepertoire bei weitem übersteigt, aber dennoch mit zahlreichen Literaturbeispielen belegt ist. Mithilfe eines eigens programmierten Online-Tools kann nachvollzogen werden, wie sich aus den verschiedenen Alterationsmöglichkeiten Akkorde bilden lassen, die der oben genannten Definition entsprechen.
Bemerkenswert ist dabei, dass Louis und Thuille die Alterationsmöglichkeiten nicht akkordbezogen, sondern skalenbasiert betrachten. Dies legt die Kombination mit einem weiteren Bezeichnungssystem nahe, und zwar dem der relativen Solmisation. Die didaktischen Vor- und Nachteile solch eines kombinierten Analysesystems sollen in diesem Vortrag im Hinblick auf Aussagekraft und Vollständigkeit untersucht werden. Als musikalische Beispiele dafür dienen Ausschnitte aus Werken von A. Bruckner, R. Strauss, J. Brahms, C. Franck, C. Saint-Saëns, sowie von L. Thuille selbst.
Es werden die Ergebnisse einer im Sommersemester 2023 durchzuführenden Umfrage zum Thema Diversität im Musikleben und in der (musiktheoretischen) Ausbildung vorgestellt. Die Zielgruppe der Umfrage sind Studierende und Absolvent:innen musikbezogener Studiengänge an Universitäten, Musikhochschulen und Akademien in Deutschland.
Die Befragung umfasst die folgenden Teilbereiche:
1. Allgemeines zur Diversität im Musikbereich: Einschätzung von Gegebenheiten des Musiklebens in Deutschland und im Musikstudium
2. Komponierende Personen: Musikurheber:innen und deren Position und Einfluss im Musikleben
3. Personen in Forschung in Lehre: Diversität von Forschenden und Lehrenden und deren Einfluss auf den akademischen Betrieb und das Musikschrifttum
4. Lehrgegenstände und Inhalte: Diversität von Studieninhalten und Gegenständen der Lehre
5. Persönliche Haltung zur der Rolle und zum Einfluss von Diversität im Musikleben
Die Präsentation wird mit einem interaktiven Austausch zu den Umfrageergebnissen verbunden (15 Minuten Präsentation, 15 Minuten Diskussion).
Die webbasierte KoALa-App ermöglicht einen kollaborativen Austausch über Musik durch die Sammlung von Annotationen. Beim Hören eines Musikstückes können die Teilnehmer*innen in einer Session entsprechend der formulierten Höraufgaben und mittels sogenannter Marker einzelne Zeitpunkte oder Passagen markieren sowie Verläufe zeichnen. Die Software sammelt diese Annotationen und stellt sie – dem Zeitpunkt im Hörbeispiel visuell zugeordnet – dar. Alle Annotationen können zusätzlich mit eigenen Text- und Audiokommentaren ergänzt werden.
Die Software fasst die individuell erstellten Annotationen zusammen und stellt sie in einer Synopse dar, die der/die Leiter*in individuell gestalten kann. Auf Basis dieser Synopse kann im Anschluss über das Stück (und die dazu entstandenen Annotationen) gesprochen werden. Die Erstellung der Annotationen kann dabei entweder live in einer gemeinsamen Unterrichtssituation oder auch zeitversetzt in Einzelarbeitsphasen bzw. als Selbststudium (bspw. in einem flipped classroom Szenario) stattfinden.
Im Lecture-Recital wird die App mit ihren Funktionen zunächst vorgestellt und die ersten Erfahrungen aus dem Unterricht (v.a. Musiktheorie, Gehörbildung und Musikwissenschaft) werden reflektiert. Danach folgt eine gemeinsame Session mit den Zuhörer*innen des Lecture-Recitals, die einen Austausch über das Tool ermöglicht. Ergänzt wird dies durch einen Ausblick auf weitere Anwendungsmöglichkeiten im Instrumental- oder Schulunterricht. Auch Einsatzmöglichkeiten im Bereich der empirischen Forschung und in der künstlerischen Praxis (Fernunterricht, live Konzerte) werden diskutiert.
Die Entwicklung der KoALa-App wurde gefördert durch die Stiftung Innovation in der Hochschullehre (StIL) im Projekt Freiraum 2022, der Audiokommentar als ergänzende Funktion wurde mittels eines Fellowships für Lehrinnovationen als gemeinsames Programm des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und des Stifterverbandes gefördert.
In den letzten Jahren haben die Musikwissenschaften immer lebhaftere Details der frühneuzeitlichen Aufführungspraxis ans Licht gebracht, zum Teil mit Hilfe der Digital Humanities. Überraschenderweise scheint jedoch ein zentrales Thema von Musikwissenschaftlern oder Befürwortern einer historisch informierten Aufführungspraxis nicht angesprochen worden zu sein. Bei der Aufführung von Instrumentalmusik aus dem 17. und 18. Jahrhundert aus Faksimile-Ausgaben trifft man oft auf Fälle, in denen ein V.S. (volti subito [sofort umblättern]) oder ähnliche Markierungen weisen auf ein schnelles Umblättern hin, wenn es in der Musik wenig oder keine Pause gibt. Wie haben Musiker damals mitten in Stücken umgeblättert? In Anbetracht des Mangels an Kopiergeräten, der Papierknappheit und der Probleme beim manuellen Kopieren ist es ausgeschlossen, zusätzliche Kopien zu haben. Haben sie auswendig gespielt oder hat jemand für sie umgeblättert?
Anhand einer Kombination aus korpusbasierte Studie, Ikonographie und Literatur aus dieser Zeit untersuche ich die unterschiedlichen Umgangsweisen der damaligen Musiker mit diesem Thema. Ich studiere sowohl Solo- als auch Ensemblemusik und zeige, dass verschiedene Instrumente und Ensembles unterschiedliche Aufführungsarrangements erfordern, die je nach verwendetem Instrument variieren. Darüber hinaus argumentiere ich, dass die Praxis zwischen den Ländern unterschiedlich war, wobei ich die nationalen (und manchmal regionalen) Aufführungspraktiken hervorhebe. Französische Drucke zum Beispiel waren viel praktischer und ließen normalerweise genug Platz für ein Umblättern am Ende der Seiten, während italienische und deutsche Drucke (und Manuskripte) dem Interpreten oft sehr wenig Platz zum Umblättern lassen. Im letzteren Fall sollten Klavierspieler oft die Seite für Spieler von Melodieinstrumenten umblättern.
Mit dem Aufkommen von IMSLP-Drucken und verschiedenen Tablets – oft mit Pedalen, die das Umblättern erleichtern – gehört das Umblättern von Notenblättern für viele Musiker der Vergangenheit an. Wie ich jedoch in diesem Aufsatz zeigen möchte, kann die Untersuchung der Art und Weise, wie Musiker der damaligen Zeit die Seiten umblätterten, einige unerwartete Aspekte der Aufführungspraxis der Musik aus dieser Zeit beleuchten, die bisher vernachlässigt wurden.
Heinrich Schmelzers Sonate unarum fidium gilt als eines der ersten Stücke, in denen Mehrstimmigkeit auf der Violine eingesetzt wurde. Dieses primär deutsche Phänomen kam dann in Heinrich Ignaz Franz Bibers Solosonaten voll zur Geltung, man kann in vielen Fällen von Triosonaten im Gewand einer Solosonate sprechen. Auch in Italien wurde diese Technik im 17. Jahrhundert verwendet, etwa von Alessandro Stradella, Carlo Mannelli oder Giuseppe Torelli. Corelli fügt sich in diesen Kontext ein: Bevor er 1700 in Rom seine Solosonaten op. 5 veröffentlichte, hatte er bereits vier Bände mit Triosonaten nach römischer Art herausgegeben. So verwundert es kaum, dass sich in den Solosonaten viele typische Triosonatenelemente wiederfinden lassen, wie parallele Terzen, typische Sequenzen und Stimmkreuzungen. Besonders auffällig ist dieser Einfluss in den Fugen, also in Sätzen, in denen ein klarer polyphoner Duktus vorherrscht. Wie Peter Allsop bemerkt hat, sind es insbesondere die Fugen, in denen viele der technischen Schwierigkeiten sich aus der Tatsache ergeben, dass Corellis primäres Ziel darin bestand, das Schreiben der Fugen für drei Stimmen im Kontext der Sonate "für zwei" zu simulieren (Allsop 1999 , S. 132).
Das Phänomen ist jedoch vielschichtiger. In diesem Vortrag soll anhand meines Experiments, Corellis erste Solofuge aus Op. 5 als Triosonate umzuschreiben, gezeigt werden, welche Probleme bei einer solchen Transkription auftreten. Die Hauptprobleme betreffen die Behandlung des Themas, die Möglichkeit der Stimmkreuzung sowie die Transkription von dezidierten Solopartien. Anhand solcher Probleme wird deutlich, wie weit sich Corellis Solosonaten trotz aller augenscheinlichen Nähe bereits von der Satzart der Triosonaten abgelöst haben. Am Ende des Vortrags soll es eine praktische Demonstration geben.
Das von Beethoven bis an sein Lebensende aufbewahrte Konvolut seiner eigenen Satzlehrearbeiten aus den 1790er-Jahren, bei der Nachlassversteigerung 1827 durch den Verleger Tobias Haslinger erworben, in dessen Auftrag durch Ignaz v. Seyfried 1832 herausgegeben, in dieser stark bearbeiteten Edition zwar kommerziell erfolgreich, jedoch – zum Beispiel schon 1852 durch Anton Schindler und dann besonders 1872 durch Gustav Nottebohm – vernichtend kritisiert und schließlich erst 2014 durch Julia Ronge im Rahmen der Gesamtausgabe neu ediert, stellt in seiner Geschichte ein prominentes Studienobjekt dar, an dem einige der Verschiebungen im Detail untersucht werden können, für die Ludwig Holtmeier 2010 den Begriff einer «feindlichen Übernahme» der traditionellen Kompositionslehre durch eine «bürgerliche Harmonielehre» des 19. Jahrhunderts geprägt hat: Im vorliegenden Fall wird ein ursprünglich aus dem Kontext einer vorinstitutionellen handwerklich-professionellen Ausbildung stammendes Dokument zunächst im Zuge der nachträglichen Konstruktion einer spezifisch «Wienerischen» Lehrtradition in der Nachfolge Johann Georg Albrechtsbergers zum modellierbaren Versuchsobjekt, dann schnell zum unveränderlich konservierten Grundstein einer schon längst im Gang befindlichen Denkmal- und Legendenbildung. Schließlich wird es nur noch unter dem Aspekt von in der Musik neuartigen philologischen Methoden betrachtet und damit dem ursprünglichen musikalisch-handwerklichen Zugang entzogen.
Die vielleicht interessanteste und dabei bis heute am stärksten missverstandene Position in diesem Zusammenhang scheint bei näherer Betrachtung diejenige des ersten Herausgebers Seyfried zu sein, in dessen editorischer Unternehmung widerstreitende Tendenzen seiner Zeit gebündelt auftreten: Einerseits versteht er sich noch als kompetenter Fortführer der alten Lehrtradition, andererseits trägt er etwa mit den seiner Edition hinzugefügten Anekdoten über Beethoven zur Musealisierung und Kommerzialisierung eines modernen Beethovenbilds bei. Zusätzliches Licht auf Seyfrieds Beschäftigung mit Beethoven werfen seine orchestralen Bearbeitungen von Klavier- und Kammermusikwerken Beethovens im Sinne einer «Instrumentation als Analyse», die in diesem Beitrag als mögliche Alternative zur Akademisierung und «künstlerische Forschung» avant la lettre ebenfalls thematisiert werden soll.
Lernen Sie die neuen Möglichkeiten der Notationssoftware Dorico kennen. Neueinsteiger und Umsteiger von anderen Musikprogrammen sind herzlich willkommen. In diesem Vortrag werden die neuen Konzepte, sowie die grundlegenden Funktionen und Bedienung von Dorico vorgestellt.
Die Musik um 1200 bildet den Anfang eines auf drei Semester zugeschnittenen Lehrgangs „Historische Satzlehre“, den die Referenten (ein Musikwissenschaftler, ein Musiktheoretiker) seit mehr als einem Jahrzehnt gemeinsam anbieten; hieraus wird ein Lehrbuch für das Selbststudium hervorgehen. Die Lehrveranstaltung richtet sich an Studierende aller Studiengänge – also sowohl aus den künstlerischen Fächern als auch an Musikwissenschaftler*innen und Musikpädagog*innen – und steht damit im Kontext einer künstlerischen Forschung. Gerade die Breite des Interessent*innen-Kreises führt immer wieder zu neuen Perspektiven und Fragestellungen, die über die enge Spezifik einzelner Themen hinausführen.
Im Vortrag stellen die Referenten beispielhaft vor, wie sie den Anfang des Kurses gestalten – in der Verbindung des „Vatikanischen Organumtraktats“ mit der (frühen) Praxis an Notre-Dame: Mit dem Traktat findet sich erstmals eine Lehrschrift, die sich dezidiert anhand von Einzelregeln auf einen variabel zu denkenden Satz bezieht. Zwei-, drei- und vierstimmige Sätze von Leonin und Perotin regen mit satztechnischen Übungen dazu an, die Theorie anhand von Regeln, Beispielen und Modellen zu erproben und über die Praxis zu hinterfragen. Dazu stellen Literatur und Film weitere Bezüge bereit, welche heutige Perspektiven auf das Mittelalter verraten und Reflexionen auslösen über den historischen Abstand und die Schwierigkeiten eines Zugangs – in künstlerischer und wissenschaftlicher Sichtweise.
Zur Diskussion gestellt wird damit auch eine Didaktik, die sich gleichermaßen auf Schriften stützt und auf satztechnische Aufgaben, für die bestimmte Aspekte aus Kompositionen herausgearbeitet werden.
Im 20. Jahrhundert ist es ganz und gar nicht ungewöhnlich, dass aus der Hand von Komponisten auch umfangreiche theoretische Studien stammen. Teilweise haben sie einen lehrbuchartigen Charakter, wollen – so wie etwa Arnold Schönbergs Harmonielehre – ins kompositorisch-technische Handwerk einführen, teilweise erheben sie aber auch einen dezidiert wissenschaftlichen Anspruch. Dieser Anspruch, der nicht eine ästhetische Verbindlichkeit, sondern eine Einheit von wissenschaftlicher Theorie der Musik und kompositorisch-musikalischer Praxis fordert, findet sich nirgends so stark formuliert wie in den Studien der Serialisten – so hat es zumindest Herbert Eimert immer wieder formuliert.
Pierre Boulez beabsichtigt, mit seinen Darmstädter Vorträgen zum Musikdenken heute eine »allgemeine musikalische Morphologie« zu entwickeln und Karlheinz Stockhausen präsentiert in … wie die Zeit vergeht … eine Theorie der musikalischen Zeit. Diese knüpft unmittelbar an Erfahrungen und Erkenntnisse an, wie Stockhausen sie aus seinen Arbeiten an den elektronischen Kompositionen gewinnen konnte. Allerdings ist in diesen Schriften auch der enge Bezug zum kompositorischen Schaffen deutlich erkennbar: … wie die Zeit vergeht … kann etwa als Kompositionsplan oder Werkkommentar zu Stockhausens Gruppen gelesen werden. Können solche Studien wie jene Boulez’ und Stockhausens nur als ästhetische ›Statements‹ gelesen werden, die sich auf das Schaffen eines einzelnen Komponisten beschränken, oder haben sie einen allgemeineren theoretischen Gehalt, der darüber hinausweist?
Genau dieser Frage widmet sich mein Vortrag. Er diskutiert anhand dieser beiden für den Serialismus zentralen Beispiele das Verhältnis von kompositorischer Praxis und musikalischer Forschung und zeigt, wie sich im Falle des Serialismus diese Ebenen befruchten, durchdringen und teils überblenden.
In diesem Vortrag wird untersucht, welche Verbindung zwischen Künstlicher Intelligenz (KI) und Musiktheorie hergestellt werden kann, und an welcher Stelle überhaupt Berührungspunkte vorhanden sind. Insbesondere werden wir uns mit der Frage beschäftigen, wie KI-Technologien die Komposition von Musik unterstützen können. Zusätzlich wird auch hinterfragt, welche Vorteile und Nachteile sich für einen didaktischen Ansatz ergeben, und welche Aspekte wir als Musiktheoretiker*innen in den kommenden Jahren in Betracht ziehen sollten. Darüber hinaus werden wir auch diskutieren, welche Auswirkungen bestimmte Entwicklungen auf die Musiktheorie haben könnten.
Dabei werden wir uns auf Beispiele aus der aktuellen Forschung beziehen.
Zunächst wird sich dieser Vortrag mit Chat-GPT und der Technologie des Prompt Engineering sowie deren Relevanz für die Musiktheorie befassen. Mit der geradezu revolutionären Einführung von Chat-GPT im November 2022 wurde erstmals künstliche Intelligenz für die breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht und von dieser enorm und schnell angenommen. Chat-GPT ist ein intelligentes Dialogmodell, das in der Lage ist, auf Folgefragen zu antworten, einige Fehler zu korrigieren, falsche Annahmen herauszufiltern und unangemessene Anfragen abzulehnen.
Das Weiteren werden Modelle, die Musik direkt erzeugen können, vorgestellt und gegebenenfalls hinterfragt. Coconet versucht Choräle von J.S. Bach zu rekonstruieren oder Lücken zu füllen. Soundraw und AIVA versuchen echte Kompositionen in zahlreichen Genres und Besetzungen zu generieren. Hinter solchen Programmen verstecken sich ethische Fragen zum Beispiel: zum Urheberrecht und zur Zukunft des Künstlersubjekts an sich.
Abschließend geht es um die Bearbeitung einer Audio-Datei, um Midi-Dateien zu erzeugen oder einzelne Tracks eines fertigen Songs zu extrahieren. Programme wie Piano Scribe oder Lalal.AI können neue Möglichkeiten für digitale Konzepte in der Lehre eröffnen.
Die „Ensaladas“ (zu deutsch: Salate) verdienen – unter anderem aufgrund ihrer außergewöhnlichen Vielfalt – ein eigenes Kapitel in der Geschichte der spanischen Renaissancemusik. Unter dem Begriff der „Ensaladas“ werden Werke zusammengefasst, die verschiedene Sprachen, Verslängen, Mensuren, literarische und musikalische Zitate sowie Elemente der Volksmusik und des Motettenstils innerhalb eines Werks miteinander verbunden, präsentieren. Das kompositorische Schaffen, die große Vielfalt von Zutaten zu einer Einheit zusammentreten zu lassen, ist hierbei auch namensgebend für die musikalische Gattung – Salat (Ensaladas).
Hierbei stellt sich unweigerlich die Frage, wie trotz der Integration ganz unterschiedlicher Teile kohärente und auf formaler wie dramaturgischer Ebene überzeugende Stücke geschaffen werden. Während es gründliche Forschungsarbeiten gibt, die die musikhistorischen Aspekte der Ensaladas untersuchen, ist die Untersuchung der musikalischen Ebene nach wie vor ein Desiderat. An dieser Stelle setzt mein Vortrag an.
Der Komponist Mateo Flecha der Ältere (1481-1553) gilt als federführend in dieser musikalischen Gattung. Am Beispiel von „El Fuego“, einer seiner längsten „Ensaladas“ (der Text umfasst über 100 Verse), soll aufgezeigt werden, mit welchen kompositorischen Mitteln ein derart langes Werk so konzipiert ist, dass trotz aller Abwechslung ein großer Zusammenhang erzielt wird.
Die Improvisation büßte ihre wichtige Rolle, die sie in der Musizierpraxis der Neuzeit lange Zeit gespielt hatte, im Laufe des 19. Jahrhundert nach und nach ein und hat heutzutage mit Ausnahme des Jazz und manch anderer Strömung zeitgenössischer Musik ihren ursprünglichen Stellenwert weitgehend verloren. Erst in jüngerer Zeit ist wieder ein verstärktes künstlerisches und wissenschaftliches Interesse an improvisierter Musik auch in historischen Stilen zu beobachten. Im Bereich der Musiktheorie wurde die „Partimento-Tradition“ des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt und als Folge von Quellenerschließung und Aufarbeitung an einigen Ausbildungsinstituten curricular verankert. Doch der Improvisationspraxis des 19. Jahrhunderts ist bisher deutlich weniger Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Erst seit wenigen Jahren ist hier ein verstärktes Forschungsinteresse zu verzeichnen: beispielsweise bei Dana Gooley, der das improvisatorische Schaffen einzelner Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts beleuchtet, oder bei Philip Feldhordt, der die Fantasierschule Czernys untersucht und dabei auch das allmähliche Zurückgehen der Improvisationspraxis im 19. Jahrhundert thematisiert.
Im Rahmen eines Lecture-Recitals soll sich der Thematik mit einem künsterisch-wissenschaftlichen Ansatz genähert werden: Der Vortrag von freien und gebundenen Klavierimprovisation in Stilen des 19. Jahrhunderts, teils auch nach Wünschen des Auditoriums, wird flankiert von Kommentaren, in denen eine historische Einordnung und Kontextualisierung vorgenommen wird, historische Quellen zum Thema Improvisation vorgestellt und Erfahrungen aus der künstlerischen und pädagogischen Praxis gegenübergestellt werden.
Innerhalb des selbst noch relativ jungen Zweigs der Historischen Interpretationsforschung ist das Potenzial, das die Beschäftigung mit annotiertem Aufführungsmaterial birgt, erst in den letzten Jahren zunehmend ins Bewusstsein gerückt (Holden 2021). Dass musikalisches Interpretieren einen hermeneutischen, daher vielfach abhängigen und somit stets veränderlichen Prozess darstellt (Cook 2013), ist zwar die zentrale Prämisse dieses Zweigs; gleichwohl arbeiteten sich Forschende bislang primär an Tonaufnahmen, also den konservierten Klangresultaten einzelner Aufführungsmomente ab. Dass diesen Resultaten meist komplexe philologische und technische, vor allem aber auch sozial-diskursive Prozesse vorausgehen, wird hierbei selten thematisiert (Martensen 2022).
Insbesondere die Dirigate Herbert von Karajans werfen für einen solchen Zugang spezifische Probleme auf. Zum einen ist sein Dirigieren seit jeher mit einer ausgeprägten Mystifizierung verbunden, die alles interpretatorische Geschehen kausal auf den „philharmonic autocrat“ (Hunt 2000, 2001) bezieht. Zum anderen sind kaum Primärquellen vorhanden, über welche sich Karajans Denk- und Arbeitsweise näher erschließen ließe; vor allem ist bis heute keine annotierte Partitur Karajans zugänglich.
Bei Recherchen im Archiv der Berliner Philharmoniker konnte ich kürzlich Orchestermaterial zu den Sinfonien Beethovens erschließen, das nachweislich unter Karajan verwendet wurde. Das Gesamtbild, zu dem sich die Dutzenden annotierten Stimmensätze zusammenfügen, erlaubt unbezahlbare Rückschlüsse auf seine Arbeitsweise; sie offenbaren insbesondere, wie er Beethovens Werke über den Aspekt des Klangs in einem spezifischen Kommunikationsprozess erschloss: Notenmaterial wurde von Karajan niemals selbst annotiert, sondern von den Musiker:innen entsprechend der von ihm geforderten Resultate eingerichtet. Textlich greifbar wird dies etwa in Überbesetzungen oder in Instrumentationsretuschen, die teilweise in einer bis Richard Wagner zurückreichenden ästhetischen Tradition fußen, andernteils aber unmittelbares Resultat der situativ-performativen Deutung des jeweiligen Werktextes durch Karajan sind.
Anhand der Orchestermaterialien zu Beethovens Dritter und Fünfter Sinfonie sowie Karajans entsprechender Einspielungen möchte ich darstellen, wie durch den Einbezug solcher Quellen und die Rekonstruktion der in ihnen abgebildeten aufführungspraktischen Vorgänge ein tieferes Verständnis für die Entfaltung des performativen Potenzials eines Werktexts gewonnen werden kann, wie es Aufnahmen alleine nicht leisten. Methodisch fußen meine Überlegungen u. a. auf dem Konzept des „künstlerischen Totals“ (Wozonig 2022) und der Auffassung einer Musiziersituation als eines „diskursiven Raums“ (Martensen 2022) ebenso wie auf den Überlegungen zu orchestraler Klangdramaturgie von Tobias Janz (2006).
Das Deeper-Learning-Konzept erfährt seit etwa 10 Jahren weltweit einen Boom und wird in immer mehr führenden Bildungsregionen eingesetzt. Dieses Lehr-Lernkonzept soll Kommunikation, Kollaboration, kritisches Denken und Kreativität dadurch fördern, dass nach einer Instruktionsphase die Lernenden in einer Konstruktionsphase selbstständig ein Projekt erarbeiten. Dieses soll schließlich (hochschul-)öffentlich präsentiert werden. (vgl. “Was ist Deeper Learning”, auf: Heidelberg School of Education, https://hse-heidelberg.de/hsedigital/hse-digital-teaching-and-learning-lab/deeper-learning-initiative/was-ist-deeper-learning, abgerufen am 30.03.2023, 18.47 Uhr)
Ein Team aus Musiktheorie-Lehrenden einer GMth-Mitgliedshochschule hat sich die Frage gestellt, ob dieses Konzept auch für den Musiktheorieunterricht einsetzbar ist und ein Konzept für das 1. Semester Musiktheorie entwickelt, das im Sommersemester 2023 dann mit 30 Studierenden durchgeführt wurde.
Die Referenten berichten über die Konzeptidee, die Schaffung geeigneter Strukturen, die Anpassung von Prüfungsmodalitäten, die Teamarbeit, Herausforderungen für den Unterricht, die Qualität der Lernergebnisse sowie die Feedbacks sowohl der Lernenden als auch der Lehrenden.
Le Voile d´Orphée (1953), ein Hauptwerk von Pierre Henry bildet das Finale eines Gemeinschaftswerkes mit Pierre Schaeffer, einer Radiokunst-Oper, einem Grenzfall der musique concrète, deren Uraufführung von Schaeffer als »Die Schlacht von Donaueschingen« umschrieben wurde. »Im Saal blieb am Schluß nur eine zurückhaltende und uns gewogene Mannschaft übrig: die französische Besatzungsarmee, die uns gratulierte.« Auf ihre Weise stellte die Aufführung so ein ähnliches Spektakel dar, wie Varèses Poème électronique (1958) oder Stockhausens Gesang der Jünglinge (1955), ist aber früher angesiedelt und noch entschiedener ein Experimentalstück, welches seine revolutionäre Kraft aus der Montage und Manipulation von Aufnahmen zieht und weniger aus dem Material selbst. Diese Eigenschaft wird auch für das damalige Scheitern der musique concrète bei der deutschen Kritik verantwortlich gemacht.
Die Montageeigenschaften, die Wahl und dramaturgische Anordnung der Klänge sowie die besondere Textbehandlung soll in diesem, für die frühe Phase der musique concrète, repräsentativen Stück näher untersucht werden. Welche späteren Techniken werden vorausgenommen, an welche die beiden konträren Kompositionstechniken von Varèse („Jäger und Sammler“) und Stockhausen (Gruppenkomposition) anknüpfen können?
Seit dem Entwurf von Bernhard Haas ist die Tonfeldtheorie im Verlauf der letzten knapp 20 Jahre zu einem der wichtigsten Ansätze zur Analyse erweiterter Tonalität im 19. Jahrhundert und darüber hinaus avanciert. Während der Ansatz von zahlreichen Analytikern aufgegriffen und an vielen Einzelwerken demonstriert wurde, fehlen nach wie vor zwei wichtige Entwicklungsschritte für die Fortentwicklung der Theorie: (a) eine übergreifende und über Einzelanalysen hinausgehende Validierung mit modernen Korpusmethoden, sowie (b) eine präzise Formalisierung der Konzepte, Relationen und Vorhersagen der Theorie mit aktuellen (mathematischen) Werkzeugen der Theoriebildung – insbesondere auch im Vergleich zu anderen, formaleren Ansätzen wie z.B. der Neo-Riemannian Theory oder der Set Theory, die sich denselben Gegenstandsbereich beschreiben.
Dieser Beitrag schlägt eine Formalisierung der Tonfeldtheorie als musikalische Grammatik mit Methoden der Theorie formaler Sprachen und Grammatiken vor. Formale, generative Grammatiken ermöglichen es, die Bildung von (musikalischen) Sequenzen mit wenigen rekursiven zugrunde liegenden Regeln zu beschreiben. In einer ersten Fassung konzentriert sich der Formalismus auf die formale Charakterisierung von Harmoniesequenzen. Die formale Grammatik nimmt (1) eine Menge von abstrakten Kategorien und (2) eine Menge von abstrakten Regeln an, mit deren Hilfe Harmoniefolgen schrittweise abgeleitet (=erklärt) werden. Als abstrakte Kategorien werden transpositionsinvariante Akkordrepräsentationen, Akkordtransformationen, sowie Tonarten und drei Tonfelder (Oktatonik/Funktion, Hexatonik/Konstrukt, Quintenreihe) angenommen – letztere abgeleitet aus den Basisdimensionen des Eulerschen Tonnetzes. Die Interpretation des Regelsatzes vermittelt auf allgemeiner Ebene zwischen Interpretation und Struktur, hier im Konkreten zwischen musikalischen Effekten und Relationen zwischen Objekten (Akkorden, Tonarten, Tonfeldern, Tönen). Die Regeln charakterisieren elementare Relationen zwischen Kategorien, die Relationen diatonischer Tonalität erweitern, insbesondere: generalisierte Prolongation, Modulation und erweiterte Tonfeldmodulation, Vorbereitungsbildung, plagale Fortschreitung, Substitution, Kontrastbildung, sowie Tonfeldteilung, -expansion, -kontraktion, und Quintenverschiebung. Aufgrund der rekursiven Anwendung der formalen Regeln auf beliebiger Abstraktionsebene entsteht die in der Literatur angenommene Hierarchie bzw. Schichtenreduktion von Tonfeldanalysen bereits aus der mathematischen Rekursion des Formalismus selbst.
Die vorgestellte Formalisierung wird an diversen Beispielen erläutert und in ihrer musikhistorischen Reichweite diskutiert, sowie der Zusammenhang zwischen individueller, hermeneutischer Expertenanalyse und dem Formalismus als Notationsgrammatik reflektiert. Abschließend werden notwendige Erweiterungen zur Analyse auf Tonebene problematisiert und die Möglichkeiten zur Validierung qua Korpusanalyse diskutiert.
Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert war die Iberische Halbinsel eine Hochburg der schriftlosen Mehrstimmigkeit. Zahllose Quellen belegen sowohl den usus der populären Polyphonie im breiten Volk als auch ein professionelles Singen nach Regeln (ratio). Insbesondere in den Kapellen der Kathedralen wurden die Sängerknaben (seises) jahrelang täglich trainiert, um die verschiedensten Sorten von Kontrapunkten zu improvisieren.
Auch wenn die Unterweisung der Knaben mündlich war und durch Training und Wiederholung geprägt war, gibt es auch eine lange Reihe von Traktaten aus Aragon, Kastilien und Portugal, die zahlreiche Informationen dazu enthalten. Einige der wichtigsten Quellen sind:
- Vicente Lusitano, Del Arte de Contrapunto, ca. 1550
- Juan Bermudo, Declaracion de instrumentos musicales, 1555
- Thomas de Sancta Maria, Arte de tañer fantasia, 1565
- Montanos, Arte de Musica, 1592
- Cerone, El Melopeo, 1613
- Lorente, El por que de la Musica, 1672
- Rabassa, Guia para principiantes, 1720
- Nassarre, Escuela Musica II, 1723
Ein tieferes Verständnis über die Techniken des improvisierten Kontrapunkts erlangt man jedoch nicht ausschließlich durch die Lektüre der Quellen, sondern vielmehr durch das eigene Improvisieren. Dafür ist es erforderlich, die in den Notenbeispielen „gefangene“ implizite Theorie zu befreien und sie mit den expliziten Anweisungen zu verknüpfen. Erst dann lässt sich daraus eine auf Quellen gestützte Methodik ableiten, um die Improvisationstechniken zu üben und zu meistern.
In einem zweistündigen Workshop sollen verschiedene Techniken des improvisierten Kontrapunkts nach iberischen Quellen praktisch umgesetzt werden:
- Contrapunto suelto (zweistimmig) nach Lusitano und Nassarre
- Fuga (Kanon) nach Thomas de Sancta Maria
- Contrapunto de dezenas nach Lusitano und Cerone
- Carreras nach Montanos und Nassarre
- Clausulas nach Lorente und Rabassa
- Passos nach Lusitano und Rabassa
Darüber hinaus werden zusammengesetzte Techniken geübt, bei denen verschiedene der oben erwähnten Sorten kombiniert werden:
- Contrapunto concertado als Kombination von Passos, Clausulas und Carreras, nach Montanos und Rabassa
- Kombination von Fugas und Contrapunto concertado nach Bermudo
Based on the composition „Saber se perder“ for contrabass clarinet, which was created in a collaborative process, the composer and the interpreter discuss their perspectives on the process of creation, development and reflect on their individual perspectives on music-theoretical ways of acting. In this presentation of two artistic research projects that collide with different questions in interdisciplinary work, numerous questions about the musical product and its realization crystallize.
What role does music theory play in the interchange between interpretive and compositional research? What is the role of the performer in the compositional process? How do interpreter and composer discuss notation, influenced by their different viewpoints? Where do contradictions or conflicts arise? What is the reciprocal relationship between the compositional process and interpretive learning? And how is interpretive learning influenced by music-theoretical and analytical questions?
From a compositional point of view, the work on „Saber se perder“ explores the question of how the multi-perspectival relationship between music and text – as well as the idea of a musical documentation via text – affect the compositional process. Triggered by the intensive source research, analysis work and reappraisal of the production process of the composition A-Ronne by Luciano Berio, a field of experimentation that emerged historically in the 1970s is to be updated and examined here with contemporary means. In the process, the reciprocal relationship between scientific work and artistic questioning proves to be a creative force, a contradiction and mutual enrichment.
The interpretative research deals with the performance practice of Complexist music, and strives to identify, understand, and suggest a set of tools to approach and resolve the challenges of notation, techniques, and their longevity. The question of musical text reproduction and understanding, as well as the embodied physicality required for “Saber se perder” poses a complex challenge that comes from the translation of notation. In a reciprocal process, the practice and the theoretical musical analysis bring a holistic and embodied process of learning in the realization of this work.
The live performance will complement this lecture recital and provides a concrete link between theoretical reflection and artistic insights.
Schumanns Orchestermusik gilt als „schlecht instrumentiert“: „Er verstand nämlich absolut nicht, das Orchester zu behandeln, weder mit dem Taktstock noch mit der Feder“, befand Felix Weingartner. Im Mittelpunkt seiner Kritik standen Schumanns Stimmverdopplungen: „Mit fast kindlichem Ungeschick glaubt er Fülle und Kraft des Klanges durch Verdopplungen zu erreichen. Daher ist seine Instrumentation so dickflüssig und ungelenk, daß, wollte man genau nach seiner Angabe spielen, ein ausdrucksvoller Orchestervortrag überhaupt nicht herauskäme“.
Erstmals 1895 dirigierte Mahler seine erste Überarbeitung eines Orchesterstücks von Schumann: dessen erste Symphonie, die sogenannte Frühlingssymphonie. Welche Motive hatte Mahlers für die Überarbeitung? Sicherlich wollte er die Klanggestalt der Frühlingssymphonie modernisieren und sie der Klangästhetik um 1900 angleichen, im konkreten Fall ging es Mahler aber offenbar auch darum, ursprünglichen Ideen des Komponisten zur klanglichen Wirklichkeit zu verhelfen. So setzte er das vom Blech gespielte Eröffnungsmotiv eine Terz tiefer, eine Idee, die Schumann verworfen hatte, weil die Transposition unspielbar war auf den Naturinstrumenten, mit denen er im Gewandhausorchester zur Zeit der Uraufführung 1841 rechnen konnte. Aus der Sicht historisch informierter Orchestrationspraxis sicherlich bedenklich, nutzt Mahlers Überarbeitung Instrumentenvarianten einer späteren Zeit. Das Argument fehlender Technik passt für Mahlers Tilgung von Verdopplungen indes nicht.
Schumann hatte die Frühlingssymphonie seit den Proben zur Uraufführung mehrfach gehört und sie bei mindestens drei weiteren Aufführungen selbst dirigiert. Der 1853 erfolgte Druck der überarbeiteten Version entsprach daher wahrscheinlich den Klangvorstellungen des Komponisten, auch was Verdopplungen angeht, und der Vorwurf schlechter Orchestration dürfte sich darum primär auf Schumanns Klangideal beziehen.
In dem Vortrag wird gezeigt, wodurch sich Schumanns Klangideal von demjenigen unterscheidet, das Mahlers mit seiner Überarbeitung der Frühlingssymphonie realisiert. Statt Transparenz, Deutlichkeit, Kontur und ausdrucksvollem, nuanciertem Orchestervortrag spielten für Schumann Mischklang, Verschwimmen, Indirektheit und eine Gattungsästhetik eine Rolle, der zufolge eine Symphonie nicht der Ort für individuellen Ausdruck war, sondern für die „Fülle und Kraft“ einer Masse. Es ging um Überindividuelles. Statt vermeintliche Schwächen von Schumanns Umgang mit dem Orchester zu beheben, indem man – wie Mahler – mit der Umarbeitung zugleich das Klangideal ändert, werden in dem Vortrag Strategien vorgestellt, wie sich der frühromantische Klang der Frühlingssymphonie mit eigens erstellten, historisch adäquaten Retuschen orchestrationstechnisch überzeugender realisieren lässt.
Gemeinhin wird akademische Gehörbildung mit dem Lösen von Musikdiktaten gleichgesetzt. In Prüfungssituationen geht es oft darum, Notenbilder anhand des Gehörten zu rekonstruieren. Dafür werden Musikbeispiele in Wiederholung vorgespielt. Die Erarbeitung der Lösung erfolgt in Stille. Das Überprüfen des Notierten wird der inneren Klangvorstellung vorbehalten. Genau diese innere Klangvorstellung steht in einer Gehörbildungsklausur auf dem Prüfstand – und zu Recht.
Das Lösen eines Musikdiktates sagt zwar etwas darüber, ob jemand das Gehörte in Notenschrift übersetzten kann. Es eignet sich deswegen als Bewertungs- und Diagnostikaufgabe. Im Unterricht ist sein Nutzen jedoch begrenzt. Wer das Gehörte innerlich nicht Nachhören kann, wird versuchen eine Lösung zusammen zu basteln in einer meist misslungenen Mischung aus Erratenem und Zufall. Das wiederholte Scheitern löst Frustration aus und vertreibt die Lust am Lernen.
Das Musikdiktat kann das letzte Ziel sein, aber nicht das erste. Das klassische Musikdiktat unterbindet ein essenzielles Teil des Prozesses der Wissensgewinnung: das Experimentieren. In dieser Hinsicht kann die Gehörbildung von einer wissenschaftlichen Herangehensweise profitieren: Von einer musikalischen Fragestellung ausgehend, werden über das Hören Daten erfasst und reproduziert. Daraus lassen sich Hypothesen über die strukturelle Beschaffenheit des musikalischen Satzes aufstellen, die durch das Musizieren sich als trefflich, fraglich oder unsinnig herausstellen. Dabei wird die innere Klangvorstellung in einem dynamischen Prozess mit dem real Klingenden konfrontiert, ständig revidiert und geschärft.
Um das Experiment ins Zentrum des Gehörbildungsunterrichts zu rücken, wird geeignetes Instrumentarium benötigt. Die Stimme und das eigene Instrument leisten dabei zwar gute Dienste, können aber für mehrstimmiges Ausprobieren ungenügend oder in Unterrichtssituationen unpraktisch sein. In diesem Vortrag wird gezeigt, welche methodischen und didaktischen Vorteile die Einrichtung eines Piano-Labs bietet. In einem Piano-Lab sind die individuellen Arbeitsplätze mit E-Pianos ausgestattet. Mit Kopfhörern können die Kursteilnehmenden für sich experimentieren, über Lautsprecher ihre Ergebnisse mit der Unterrichtsgruppe teilen. Ergänzt wird der Vortrag mit Erfahrungsberichten zum Einsatz des Piano-Labs an verschiedenen deutschen Musikhochschulen und mit einem Einblick in die technischen Anforderungen und Ausstattung.
Podcasts sind vielfältig und behandeln nahezu alle Fragen und Themen des Lebens. Dabei reichen die Formate von Interviews und Talks über Features und Dokumentationen bis hin zu Nachrichtensendungen. Auch im Bereich der sogenannten „klassischen“ Musik gibt es inzwischen einige Beispiele, die durchaus Reichweite und Popularität erlangt haben, wie Igor Levits Klavierpodcast, die Hörbiographien mit Udo Wachtveitl, die Meisterstücke, Klassik to go oder Das starke Stück – Musiker erklären Meisterwerke.
Dass Musik ein auditives Medium ist, ist ein trivialer Fakt. Die Vorteile, auditive Elemente bei der Vermittlung mit einzubeziehen, liegen also auf der Hand. Podcasts können, als „Audio on Demand“, individuell jederzeit abgerufen und „zwischendurch“ konsumiert werden: auf den Bus wartend, bei der Hausarbeit oder in der Mittagspause; nicht einmal Kopfhörer sind nötig, die Augen sind nicht an einen Bildschirm gebunden. Hinzu kommt, dass die notwendigerweise abzurufenden Datenmengen geringer als bei vergleichbaren Video-Dateien sind.
Die zeitgenössische Musik ist zwischen den vielen Angeboten nur minimal vertreten. In Zeiten von Klick- und Abrufzahlen ist sie offenbar nicht Mainstream-tauglich genug. Das Potential gerade für die Vermittlung zeitgenössischer Musik, der noch immer mit Vorbehalten begegnet wird, ist aber enorm – schlicht, weil den meisten Menschen die Hörerfahrung im Umgang mit nicht tonaler Musik fehlt.
In Podcasts können die Hörenden in kleinen Portionen mit Musik vertraut gemacht werden. Dabei können Kommentare immer wieder Hintergrundinformationen und Hörhilfen geben, die das Verstehen der entsprechenden Musik erleichtern. Durch Moderation und direkte Ansprache werden die Adressierten unmittelbar einbezogen; sie geraten mit dem Werk in Interaktion und werden zur Reflexion angeregt.
Der Vortrag beleuchtet diese Potentiale, thematisiert Aspekte der Performativität und auch die Frage, inwiefern unterschiedliche Zielgruppen mit Podcasts zur zeitgenössischen Musik erreicht werden können. Es werden außerdem erste Ergebnisse eines Projektes, das im Rahmen eines Analyse-Seminars an der Hochschule für Musik Mainz stattfindet, vorgestellt.
Since the introduction of the first commercially available spectrographs, the process of deconstructing spectrograms into various symbolic representations has played a vital role in music composition. Risset and Wessel (1999) described this process as an "exploration of timbre by analysis and synthesis," which involved not only the decomposition of various machine-generated representations into sheet music notation, a crucial aspect of spectral music (Kursell & Schäfer, 2016), but also the creation of frequency tables central to computer-synthesized works (Harvey, 1981). Furthermore, they emphasized the importance of an "acute ear and judgment" as a key factor in the creative process, necessitating active interaction not only as an analyst but also as a listener or interpreter, ultimately leading to a deeper understanding of the musical material.
This concept, which combines analysis, synthesis, and acoustical perception into a cohesive process, has been pivotal for the development of several software designs, dating back to Music V (1967) (Risset, 1994). Environments like OpenMusic and Audiosculpt, along with their various possibilities for interconnectivity, have excelled in embodying this concept, allowing complex interactions between analysis, symbolic representation, and resynthesis. Unfortunately, due to the discontinuation of Audiosculpt's development and the incompatibility of its latest version with modern 64-bit systems, many useful interactions familiar to users in the 2000-2010s have become inaccessible on current platforms.
In response to this challenge, we developed several Python-based tools centered around analysis, sonification, and symbolic representation. These tools were primarily based on adaptations of FMP Notebook scripts (Müller, 2021) and the Verovio framework (Pugin et al., 2014). We refined their practical functionality through several lecture cycles at HMT Leipzig, resulting in a robust and versatile set of tools designed for musicologists, composers, and researchers. In our planned talk, we aim to showcase multiple implementations of our toolset, with a focus on pattern recognition applications for a range of analytical and creative purposes.
The presentation will showcase an improvisational performance by a duo consisting of a rapper and an analog synthesizer player. From an artistic research perspective, the project explores several pairs of interactions during the performative process: the analog-synthesized sound and the rapping voice (Hörner and Kautny 2009); the individual and the collective (Linson and Clarke 2017); and the semantic content and the sonic features. Apart from the performative activity, music analysis and self-reflection are also implemented, not only during but also after the performance. The digital recordings of the performance enable the spontaneous moment to be accessible and provide possibilities for distanced analysis and reflection.
The project has established a model that could contribute to the domain of contemporary music improvisation. With the knowledge gained from composition and electroacoustic music studies, the musicians are able to focus on the structure of the performance. Instead of a pre-planned structure, the improvisation focuses on a constructive process based on the intuitive perception of time, real-time analysis, and the exchange of musical materials between the musicians. As a trigger of inspiration, several lines of rhymed words or short sentences as rap lyrics are either prepared or written spontaneously before the improvisation, which could lead to an unexpected story, narration, and transformation of the structure.
Die Entscheidung über den Einsatz von Vibrato und Portamento erfolgt an einer Schnittstelle zwischen künstlerischer Praxis und (wissenschaftlicher wie nicht-wissenschaftlicher) Rezeption. Die Interpretationsforschung hat insbesondere für die Zeit vor 1900 umfassend entsprechende Werturteile zu diesen "expressiven Gesten" aus Traktaten und Rezensionen zusammengestellt, für die Zeit ca. nach 1900 lassen sich diese Aussagen dann auch mit der klingenden Dokumentation auf verschiedenen Tonträger-Formaten abgleichen.
Die (kostenpflichtigen) Archive von Schallplatten-Magazinen wie Fono Forum oder Gramophone sind eine von der Wissenschaft bislang weitgehend übersehene Quelle, um die Geschmackspräferenzen und Geschmackswandlungen beim Einsatz von Vibrato und Portamento zu untersuchen (wobei diese beiden, besonders prominenten Begriffe pragmatisch als Schlagworte für entsprechende Suchabfragen herausgegriffen werden).
Stichprobenartige Voruntersuchungen zeigen interessante Verschiebungen sowohl in der Häufigkeit, in der diese performativen Aspekte in den Rezensionen explizit thematisiert werden, wie auch in der Wertigkeit, die dem Einsatz (oder der Vermeidung) von Vibrato und Portamento zugesprochen werden.
Der Vortrag möchte auf der Basis einer quantitativen Inhaltsanalyse dieser Quellen eine Forschungslücke schließen. Mithilfe statistischer Kategorienbildung, aber auch analytischer Abgleiche mit dem "tatsächlich" auf den Aufnahmen gespeicherten Klang soll zu einem breiteren Verständnis beigetragen werden, welchen Einflussfaktoren die künstlerische Praxis der Gegenwart beim EInsatz von Vibrato und Portamento zumindest teilweise unterliegt.
Vernetztes Lernen bedeutet Inhalte so zu verknüpfen, dass sie durch ein höheres Maß an Assoziationsmöglichkeiten leichter zu verstehen sind. Im Laufe der Evolution hat das erfolgreiche Aufsuchen einer Wasser- oder Nahrungsquelle bzgl. der Merkfähigkeit von Wegstrecken in der Regel zu signifikanten Veränderungen von Lernkurven geführt. Studien an Taxifahrern haben gezeigt, dass Voluminazuwächse in Arealen des Hippocampus mit der Anzahl von Berufsjahren korrelieren und in der Regel mit guten Gedächtnisleistungen einhergehen (Maguire, E.A./Gadian, D.G./Johnsrude, I.S./Frith, C.D. (2000): Navigation-related structural change in the hippocampi of taxi drivers).
Transferiert man den Grundgedanken anhand zurückgelegter Wegstrecken gute Erinnerungsleistungen zu generieren beispielsweise in die Gehörbildung, so ergeben sich mit der Verknüpfung von Klangereignissen an Streckenpunkten neue Möglichkeiten des Memorierens.
Ein ganzheitlich ausgerichteter Gehörbildungsunterricht verlässt sich nicht alleine auf die Reproduktion sensorischer Reize, die über den Hörsinn als sogenanntem Fernsinn zeitversetzt schriftlich erfasst werden, sondern implementiert neben der Stimme gerne auch weitere körpernahe Sinne, wie beispielsweise den Tast- und Bewegungsinn, sprich den Einsatz von Instrumenten zum Anlegen entsprechender Referenzen im Gehirn.
Auf dem Hintergrund, dass im menschlichen Körper die Anzahl tastsensibler Rezeptoren gegenüber der Anzahl von Rezeptoren anderer Sinnesorgane eindeutig überwiegt, erscheint es sinnvoll Aufgabentypen, die zum Erfassen, Kategorisieren und Deuten von Hörphänomenen Audio- und Bewegungssignale sowie das räumliche Orientierungsvermögen kombinieren, daraufhin zu erforschen, welchen Beitrag sie für die Entstehung einer passiv und aktiv agierenden musikalischen Klangvorstellung leisten können.
Das haptische ›Begreifen‹ von Musik mag so manchem Pianisten das Verstehen harmonischer Vorgänge erleichtern. Der Vortrag beschäftigt sich mit Aufgabentypen für die Gehörbildung, die über die Lerngruppe von Studierenden hinausgehend insbesondere auch für jüngere Zielgruppen den Zugang zum Verständnis und handlungsorientierter Verwendung von Klängen erleichtern möchten.
Die Unverfügbarkeit des Zitats. Vom Umgang mit Fremdkörpern in aktueller Komposition. Aus einem Forschungsvorhaben
Zitiert werden kann nur, was bereits existiert. Es muss schon auf Schreibflächen notiert, auf Servern gespeichert oder im Gedächtnis von Lebenden aufbewahrt sein, die es weitergeben können. Es muss also verfügbar sein. Und es wird zum Zitat erst in dem Moment, wo wir darüber verfügen, wo wir es aus seinem Kontext herauslösen und in einen anderen verpflanzen. Zitieren ist Transplantieren. Und das heißt: Aus einem fremden Kontext wird es dem eigenen Kontext assimiliert. Aber bleibt das Zitierte in seiner Verfügbarkeit nicht immer ein Stück weit unverfügbar, wie ein Fremdkörper? Nachdem das Fremde in ästhetischen Debatten für ein Jahrhundert kaum eine Rolle gespielt hatte (Simmel 1908, Waldenfels 2007), gewann es seit der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 wieder an gesellschaftlicher und politischer Brisanz. Auf der Grundlage neuerer Studien (Gottstein 2015, Nonnenmann 2018) und im Anschluss an Hartmut Rosa (Unverfügbarkeit, 2020) wird ein Weg aufgezeigt, wie experimentell und explorativ die paradoxe Existenz von musikalischen Fremdkörpern erkundet werden kann. Gezeigt wird das an einem Teilaspekt eines größeren eigenen Forschungsprojekts. Als Grundlegung wurde zunächst der Umgang mit Zitaten in neuerer Musik exemplarisch untersucht: u.a. anhand von Popkultur-Zitaten in Werken von Alexander Schubert, Zitaten aus älterer Musikgeschichte bei Klaus Huber, Zitaten als Spiegel von Rezeption bei Mauricio Kagel und Zitaten als sozialen Metaphern bei Johannes Kreidler. Sodann wurde mit künstlerischen Mitteln die semantische Veränderlichkeit von Zitaten durch neue Kontexte untersucht. Ausgewählt wurde für das Projekt u.a. die chromatische Linie der Streicher aus dem Liebestod von Wagner. Was passiert, wenn dieses Zitat von aktueller (eigener) Musik umgeben ist? Ändert das Zitat den neuen Kontext? Und ändert umgekehrt der Kontext das Zitat? Bleiben die Zitate Fremdkörper? Methodisch wird mit Stilkritik gearbeitet und durch Verfolgung seiner semiologischen Transformationen.
Mein Forschungsprojekt hat einen hohen musikanalytischen Anteil, seine im Kern philosophische Frage soll indes mit künstlerischen Methoden beantwortet werden. Die vorgestellten Untersuchungsergebnisse zeigen, dass das Zitat der Erinnerung, der Inspiration, der Kennerschaft und dem Wissen verfügbar ist, aber auch seine Unverfügbarkeit: Es kann zum Eigenen werden, aber selbst bei hoher Anpassung wird es ein Anderes bleiben.
In der modernen Lautenistik wurde sowohl von musikwissenschaftlicher als auch von instrumentalpraktischer Seite häufig auf die enormen spieltechnischen Probleme aufmerksam gemacht, die den Werken einzelner Lautenkomponisten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts innewohnen. Steht dieser Befund zwar unwidersprochen fest, so unterschieden sich doch die Umgangsweisen mit den problematischen Stücken: während in wissenschaftlichen Beiträgen lange die (unhinterfragte) Annahme populär war, dass Lautenisten wie Melchior Neusidler (ca. 1531-1594) oder Giovanni Antonio Terzi (ca. 1580-1620) ihre Werke genauso spielten, wie sie überliefert sind, vermieden moderne Praktikerinnen pragmatisch jene Teile des Repertoires, die ‚unspielbar‘ scheinende Passagen aufweisen. Dies wirft die Frage auf, ob Lautenisten früherer Zeiten schlichtweg versierter waren oder ob es andere Erklärungen für das gehäufte Auftreten von ‚unlautenistischen Passagen‘ in Lautenbüchern ab ca. 1550 gibt.
Melchior Neusidlers Werke eignen sich in besonderer Weise zur Untersuchung dieser Fragestellung, da sie erstens reich an spieltechnisch problematischen Passagen sind und zweitens in sehr unterschiedlichen Überlieferungsmedien erhalten sind, u. a. in Autographen, von Neusidler autorisierten Drucken und in Abschriften professioneller Lautenisten der Zeit. In vergleichenden Analysen konnte ich charakteristische Abweichungen feststellen, die von der jeweiligen Quellenart und ihrer Funktion abhängen. So stehen handschriftliche Tabulaturen dem Musizieren näher, wohingegen gedruckte Lautenbücher mit künstlerischem Anspruch die kompositorischen Qualitäten dokumentieren – unabhängig von der tatsächlichen Ausführbarkeit am Instrument. Dies bedeutet: die Gebrauchsfunktion von Manuskriptquellen garantiert die Möglichkeit der praktischen Umsetzung, wohingegen die Repräsentationsfunktion gedruckter Lautenbücher zu einer Priorisierung satztechnischer Korrektheit führt. In Zusammenarbeit mit renommierten Lautenistinnen und Gitarristen habe ich die Hypothese der quellenabhängigen Detailgestaltung von Lautenwerken auch praktisch überprüft. Hierbei entstanden Videoaufnahmen, die verdeutlichen, dass selbst Neusidler wohl keine ‚unlautenistischen Passagen‘ spielen konnte.
Ist die Überlieferungssituation weniger günstig als im Falle Neusidlers (und das ist sie in der Regel) können die gewonnenen Erkenntnisse auch auf andere Lautenmusik übertragen werden. Exemplarisch kann dies an den Lautenbüchern Giovanni Antonio Terzis erprobt werden, die „some of the most difficult music ever written for the lute“ (Paul O’Dette) enthalten.
Eine Neubewertung des Spannungsverhältnisses von ideellem Tonsatz und instrumentaler Reproduktion desselben hat sowohl für Interpretinnen als auch für Musikwissenschaftler weitreichende Implikationen und birgt das Potenzial, weithin vernachlässigtem Repertoire zu neuem Glanz zu verhelfen.
In der 2020 von Veronika Darian und Peer de Smit herausgegebenen Publikation Gestische Forschung – Praktiken und Perspektiven betonen die Herausgebenden im Vorwort, dass es sich bei dem neuen Ansatz der im Sammelband enthaltenen Beiträge weniger um eine Auffrischung zwischen 1940 und 2010 intensiv erfolgter Forschungen zu Leiblichkeit, Semantik, Sozialität, Phänomenologie und Ästhetik von Gesten handelt als vielmehr um eine Auseinandersetzung mit den eigenen Forschungsmethoden und -praktiken, die epistemologische Konsequenzen hat: Bringt doch das im Wortsinn übergreifende und hybride Potential des Gestischen Erweiterungen und Verschiebungen von Forschungsstandards mit sich. Im Zuge dieser Verschiebung wird gerade den Künsten ein maßgeblicher Anteil an der Wissensproduktion und -speicherung zugeschrieben und das nicht nur aus den Künsten selbst. Auch ist ein solches „Wissen der Künste“ nicht zwangsläufig ein kunstbezogenes Wissen, sondern schließt naturwissenschaftliche, anthropologische und ontologische Perspektiven mit ein. Waren es in der Dekonstruktion entwickelte Gedanken, die ‒ in Texten von Derrida, Cixous, Barthes, Nancy und anderen ‒ das sprachliche Paradigma aus seiner Statik und diskursiven Gebundenheit befreiten, so sind es in künstlerischer Forschung gerade nicht sprachlich vermittelte, nicht übersetzbare Wissensformen, die an die Stelle von sprachlich oder durch andere Formen der Datenerhebung fasslicher Forschungsergebnisse treten. Wie Derrida die Alltagsprache dahingehend korrigiert, dass „Übersetzungen“ tatsächlich „Transformationen“ sind, so artikuliert sich auch künstlerische Forschung oft gestisch-transformierend. Ein adäquates „Lesen“ dieser Forschungsgesten ist weder aus den Wissenschaften übertragbar noch selbstverständlich.
Musiktheorie als von jeher hybride Disziplin bietet die Chance zur Sensibilisierung, zur Schärfung und zum Nachvollzug solcher Transformationen. Wenn Roland Barthes in seinem Kommentar zu Robert Schumanns Kreisleriana anscheinend ebenso banale wie abwegige Gestik in eine virtuelle Körperlichkeit der Musik hineininterpretiert und dabei die Unabhängigkeit dieses „corps“ von regelhafter und diskursiv stimmiger Analyse betont, dann bieten musiktheoretische Differenzierungen die Chance, aus der Hermetik beider Texte, Schumann wie Barthes, eine verstehende Bewegung, ein gestisches Denken abzuleiten.
Der Vortrag versucht an weiteren Beispielen künstlerisch forschender Gestik wie an Arbeiten aus der zeitgenössischen Choreographie und dem zeitgenössischen Musiktheater exemplarische Forschungssituationen zu präsentieren, in denen musiktheoretische Sensibilisierung ein Wissen der Künste erschließt, welches transdisziplinär als forschende künstlerische Praxis über die traditionellen Grenzen des Fachs hinausgreift.
Stereotype threat occurs in situations where existing negative attitudes about a person’s group result in concerns of judgment and thus undermine performance and expression as discussed in Spencer et al (2016). The art form jazz still has the lowest participation of female instrumentalists, thus making them a minority group often under the crucial 15% mark, the numerical value that often triggers deep-rooted assumptions and stereotype threat. Research on possible solutions has been approached from many angles – historical analysis, social observations, experimental deductions, building theories, but very little from an artistic research perspective. What is the impact of stereotyping on the creative process and the musical outcomes? As a female jazz pianist, how do I respond to stereotype threat in various situations and how does that affect my performance and musical process? How might the sound of jazz change as stereotype threat slowly disappears with more inclusive policies and diversification? Artistic research helps us understand these questions and communicate answers through the language of music, reaching far beyond words. In this keynote address audiences will experience stereotyping and various research approaches. Priniples of Artistic Research will be discussed and exemplified.
Lit.: Spencer SJ, Logel C, Davies PG. Stereotype Threat. Annu Rev Psychol. 2016; 67:415-37.
Betrachtet man das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst als „Beziehung“ zwischen zwei systemischen Kommunikationszusammenhängen (vgl. Weidner 2015), erweist sich artistic research als Hybridkonstruktion, angesiedelt in einer spannungsvollen Lage. Ihre Position „auf der Systemgrenze“ (Sprau 2021) birgt Chancen und Risiken: Als interdisziplinäre Betätigung kann künstlerische Forschung wechselseitige Anregungen zwischen verschiedenen fachlichen Bereichen fördern und, im Fall ihres Gelingens, fruchtbar machen. Bei Misslingen droht ihr eine Art staatenloser Existenz zwischen allen Stühlen oder das (Miss-)Verständnis, sie wolle Meriten aus dem Nachbargebiet gewissermaßen über die Grenze schmuggeln. Vielleicht sind die Vor- und Nachteile einer solchen Konstruktion aus fachlich-musiktheoretischer Sicht besonders gut nachzuvollziehen: Die Zuschreibung, „nicht Kunst, nicht Wissenschaft“ zu sein (Holtmeier 1997) und doch an beidem zu partizipieren, ist für die Musiktheorie immanenter Teil ihrer Fachgeschichte. Möglicherweise bieten deshalb die Strukturen musiktheoretischer Ausbildung und Lehrpraxis Antworten auf die Frage, wie sich Forschung und Lehre im Bereich der artistic research sinnvoll in akademische Curricula einbinden lassen. Umgekehrt könnten Fragestellungen, die im Bereich der künstlerischen Forschung derzeit bearbeitet werden, der Musiktheorie inhaltliche Impulse für ihre eigene künftige Fachentwicklung geben.
Der Vortrag spielt diese Überlegungen in drei Schritten durch. Erstens richtet er einen Blick auf die grundsätzlichen Herausforderungen interdisziplinärer Aktivität, speziell die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wo Kommunikation ‚über Systemgrenzen hinweg‘ erwartet wird. Zweitens nennt er ausgewählte Projekte aus dem Bereich der musikalischen Interpretationsforschung als Beispiele für akademische Zusammenhänge, in denen künstlerische und wissenschaftliche Aktivitäten faktisch miteinander in Wechselwirkung treten. Drittens skizziert er Ideen zur Frage, wie interdisziplinäre Projekte im Bereich künstlerischer Forschung mit musiktheoretischen Anteilen beschaffen sein müssen, wenn systemisch bedingte Verständigungsprobleme zwischen den einzelnen Bereichen theoretisch reflektiert und methodisch berücksichtigt sein sollen.
Zitierte Literatur: V. Weidner, „Musikpädagogik und Musiktheorie. Systemtheoretische Beobachtungen einer problematischen Beziehung“, Münster 2015 / K. Sprau, „Auf der Systemgrenze. Artistic research zwischen Kunst und Wissenschaft“, musiconn.kontrovers, 27.8.2021 / L. Holtmeier, „Nicht Kunst? Nicht Wissenschaft? Zur Lage der Musiktheorie“, Musik & Ästhetik 1/1–2 (1997), 119–136
In diesem Vortrag wird anhand praktischer Beispiele der Musiknotation und musiktheoretischen Analyse das Konzept und die Funktionalität von Dorico beschrieben. Es wird gezeigt und erklärt, wie schnell und unkompliziert ein kollisionsfreies Layout eines Orchesterarrangements mit zusammengeführter Dirigierpartitur, Einzelstimmen und Wiedergabe erstellt werden kann. Des Weiteren werden die Möglichkeiten vorgestellt, die das aus Adobe Indesign bekannte Desktop-Publishing-Konzept mit Seitenvorlagen und Rahmenstruktur bietet. Ebenso werden die Vorteile der semantisch-funktionalen Werkzeuge, wie z.B. des Akkordsymbol-, Fingersatz- oder Generalbass-Werkzeugs, gegenüber rein grafischen Werkzeugen anderer Programme, für die musiktheoretische Analyse aufgezeigt. Ebenfalls verfügt Dorico über Werkzeuge zur Akkordanalyse, wie auch zur automatischen Harmonisation und Erstellung von Sätzen nach einstellbaren Regeln der Musiktheorie. Nicht zuletzt stehen in Dorico noch weitere Kompositionswerkzeuge zur rhythmischen und tonalen Manipulation von Musik zur Verfügung.
Dorico stellt also vielfältige Möglichkeiten der Notation bereit, die sich vom einfachen Leadsheet über Arbeitsblätter, mehrsätzige Kompositionen mit unterschiedlichen Besetzungen, bis hin zu musiktheoretischen Betrachtungen hin erstrecken.
Am Ende dieses Vortrags werden Sie einen Überblick über die neuen – und zukünftigen – Möglichkeiten von Dorico haben.
Die künstlerisch-wissenschaftliche Forschung ermöglicht es, Einblick in kreative Prozesse zu gewinnen sowie Kunstschaffenden einen Universitätsabschluss, unter Einbeziehung ihres künstlerischen Schaffens, zu erwerben. In Großbritannien, wo künstlerisch-wissenschaftliche Forschung schon seit längerem etabliert ist, kam der Musik eine Sonderstellung zu, eine Komposition zusammen mit einem kurzen Kommentar, oft nur 10.000 Wörter, war ausreichend für den Doktortitel. Im Gegensatz dazu musste in anderen Disziplinen eine künstlerische Arbeit und ein aus 40.000 Wörter bestehender geschriebener Anteil eingereicht werden. Dies zeigt zum einen, wie dominant der schriftliche Diskurs, auch wenn es um eine symbolische Notation wie Notenschrift handelt, für wissenschaftliches Arbeiten ist. Zum anderen, inwieweit Musik als eine Kunstform betrachtet wird, die sich durch sich selbst ausdrücken kann. Es gilt zu überlegen, was dies für die künstlerisch-wissenschaftliche Forschung im Bereich Musiktheorie bedeutet in Bezug auf die spezifischen Erkenntnisse, die hier gewonnen werden. Wie ist Theoriebildung hier schon in der Praxis verankert bzw. meint Theorie in diesem speziellen Kontext nicht schon eine Auseinandersetzung mit der Praxis? Wenn ja, wie kann dies artikuliert werden?
In diesem Vortrag möchte ich zentrale Fragen und Problemstellungen erörtern, mit denen ich mich in meiner langjährigen Tätigkeit in Großbritannien als Dozentin bei der Betreuung künstlerisch-wissenschaftlicher Forschungsarbeiten in inter- und transdisziplinären Kontexten auseinandergesetzt habe und Lösungsvorschläge für die Musiktheorie erörtern. Zentrale Punkte sollen hierbei sein: wie ist das Spezifische bei der Betrachtung eines künstlerischen Artefakts, in Bezug auf meine eigene Praxis oder die eines anderen herauszuarbeiten? Wie verändern sich hier Subjekt/Objektbeziehungen, wenn ich mich mit der Praxis als solcher auseinandersetze? Welche Formen der Darstellung und Dokumentation von Erkenntnissen bieten sich, zusammen mit und jenseits von Schrift oder Notenschrift, an? Braucht es andere diskursive Strategien? Wie sehr benötigt Musiktheorie ebenfalls die Theoriebildung in anderen Disziplinen, wie zum Beispiel, Philosophie, Soziologie und kognitive Forschung, die zur theoretischen Untermauerung in der künstlerisch-wissenschaftlichen Forschung häufig herangezogen werden? Für wen ist die Möglichkeit einer Qualifikation in künstlerisch-wissenschaftlicher Forschung eine Erleichterung?
Musik kann im Film eine Vielzahl verschiedener Funktionen erfüllen, um eine bestimmte von RegisseurIn oder FilmkomponistIn intendierte Wirkung auf das Publikum zu erzielen (vgl. Bullerjahn 2001, 59). Sie kann beispielsweise Bewegungen im Bild illustrieren (vgl. Gervink, Bückle 2012, 241-245), die Wahrnehmung eines bestimmten Filmcharakters beeinflussen (vgl. Hoeckner et.al. 2011), „epische Bezüge herstellen“ (Schneider 2005, 67) und vieles mehr. Im Falle von Horror- oder Thrillerfilmen wird Musik oft im Sinne des „Foreshadowing“ (nach Chatman 1978) verwendet, d.h. um das Publikum die kommenden Ereignisse bereits voraus ahnen zu lassen (vgl. Kloppenburg 2012, 141).
Im Filmen dieser Genres ist jedoch noch ein weiteres einheitliches Gestaltungsprinzip in Bezug auf den Einsatz von Musik erkennbar: Hier wird filmübergreifend sehr ähnlich gestaltete Musik in Szenen eingesetzt, in denen zu Beginn der Handlung ein Charakter zum ersten Mal einen Ort erkundet, welcher sich später als „Quelle des Übernatürlichen“ entpuppen soll. Im Rahmen des Vortrags wird dieses Gestaltungsprinzip anhand verschiedener Szenen aktueller Thriller- und Horrorfilme demonstriert und die ihm zugrundeliegenden musiktheoretischen Gestaltungsmerkmale im Zusammenhang mit den bildgestalterischen und dramaturgischen Gegebenheiten vorgestellt.
Abschließend wird erörtert, in wie weit die daraus abgeleiteten Erkenntnisse zu einer „filmmusikalischen Topologie zur Charakterisierung von Geisterorten“ ein Modell zur analytischen sowie künstlerisch-praktischen Annäherung an stereotyp gestaltete Filmmusik solcher Szenen liefern können.
Unter anderem dank der «Wiederentdeckung» des Partimento (Sanguinetti) ist der Nutzen einer praktischen Anwendung von historischen Formen im heutigen Musiktheorieunterricht und für die künstlerische Forschung allgemein erkannt worden. Allerdings stammt der Corpus der Partimento-Übungen hauptsächlich aus dem 18. Jahrhundert, spätere Entwicklungen werden traditionell als Niedergang angesehen (Sanguinetti). Viele wertvolle Studien zum Unterricht in Musiktheorie im 19. Jahrhundert sind bereits erschienen (Diergarten, Menke, Lehner), trotzdem kommen jüngere Übungsformen nur selten zur praktischen Anwendung. Dabei sind die Unterrichtsformen der Musiktheorie im frühen 19. Jahrhundert noch nicht mit dem überlieferten Theorie-Mainstream aus dem 20. Jahrhundert gleichzusetzten. Die drei Vorträge in diesem Panel (neben Einführung und Schlussdiskussion) zeigen die Erträge von Untersuchungen und experimentellen Anwendungen zum Unterricht in Musiktheorie am Pariser Conservatoire unter der Direktion von Luigi Cherubini. Sie ermöglichen eine stilgerechte, praktische Annäherung an eine vermeintlich allzu bekannte Musikepoche und eine künstlerisch forschende Auseinandersetzung vonseiten der Studierenden.
Claudio Bacciagaluppi wird in den Themenbereich einführen und die Forschungsgruppe vorstellen, die an der Hochschule der Künste Bern tätig ist. Bei ihrer Arbeit geht es um die Rekonstruktion der Unterrichtspraxis in Musiktheorie am Conservatoire in den 1810er- bis 1840er-Jahren. Die einzelnen Mitglieder der Forschungsgruppe haben aus den gewonnenen Einsichten Erfahrungen gesammelt, die direkt in ihre eigene Unterrichtspraxis eingeflossen sind.
Lydia Carlisi wird das Fach «harmonie et accompagnement pratique» unter die Lupe nehmen. Dieses Unterrichtsfach wandelte sich über die Jahre und schwankte zwischen seinen beiden Komponenten: Harmonielehre und Unterweisung im Generalbassspielen für die Begleitung der angehenden Sänger*innen. Es werden einige historische Methoden und Übungen vorgestellt, die als Anregungen für die Gestaltung des eigenen Harmonielehre-Unterrichts dienen können.
Vivian Domenjoz stellt eine konkrete Anwendung von «marches d’harmonie» oder Satzmodellen aus den Unterrichtsmaterialien von Luigi Cherubini für das Fach Komposition vor. Die Notizen von dessen Schüler Aimé Leborne zeigen interessanterweise, dass dieses Modell aus der Harmonielehre, das gewöhnlich als Propädeutikum behandelt wurde, nach sechs Jahre Kompositionsunterricht wieder aufgegriffen wird. Der Vergleich zwischen Cherubinis Behandlung des Chores im Rahmen seiner Opernmusik und Lebornes Übungen zeigt, wie dieses Satzmodell hilfreich für das Schreiben von mehrchöriger Musik angewendet werden kann, und eröffnet uns einen Einblick in die damalige Unterrichtsmethodik.
Gigliola Di Grazia wird Aspekte der Klavierpädagogik aus dem Umfeld des Conservatoire behandeln, beispielsweise von Friedrich Kalkbrenner, und ihre Relevanz für die heutige Praxis vorstellen. Damals wie heute spielt eine möglichst «verkürzte» Methodik eine wichtige Rolle für die Klavierstudent*innen, die sich bestimmte Kompetenzen so schnell wie möglich aneignen mussten, um in der Welt der Virtuos*innen konkurrieren zu können. Ergebnisse dieser «schnellen Pädagogik» sind beispielweise das Guide-mains (Méthode 1831), ein mechanisches Mittel, das das Erlernen der Grundlagen der Klaviertechnik erleichtern soll, und die angewandten Sequenzen (Traité 1849), die den Weg zum Präludieren abkürzen würden. Beide Aspekte bereichern das Spiel der heutigen Interpret*innen: Das Guide-mains eröffnet die Aussicht auf vielfältige Anschlagsmöglichkeiten; das Präludieren wiederum, das vor allem die Improvisationen der romantischen Pianist*innen prägte, ist heute noch nicht wieder selbstverständlicher Teil der Ausbildung in diesem Repertoire.
Abschliessend wird eine Diskussion über die vorgestellten Beispiele der Anwendung historischer Übungsmodelle im Plenum angeregt.
In Teilen der Musikwissenschaft hat sich in den vergangenen 20 Jahren ein ausgiebig diskutierter Wandel vollzogen, der die Perspektiven auf populäre Musik wesentlich verbreitern konnte, dazu zählt etwa die musikalische Analyse abseits von Notentexten (Tagg 1982, Moore 2003, Wicke 2003, 2008, Papenburg 2016), der Einbezug von Performance-Aspekten (Auslander 2004, Burns/Hawkins/Inglis 2006, Cook 2013) oder die Relevanz von Medienkonstellationen im Produktionsprozess (Großmann 2008,2013,2019, Ahlers 2022, Ismaiel-Wendt 2016,2018).
Während in deutschsprachigen musiktheoretischen Analysen populärer Musik Ansätze abseits von Partituren oder Transkriptionen bislang nur zaghaft Berücksichtigung finden (Huschner 2016, Dreyer/Horn 2017), bieten Social Media Plattformen wie YouTube oder Instagram (abzüglich medialer Inszenierungen etc.) mitunter facettenreiche Einblicke in künstlerische Entstehungsprozesse von recorded music (Zagorski-Thomas 2014), etwa im Bereich elektronischer Musik oder in Band-Kontexten von Rock- oder Popmusik. Ein maßgeblicher Faktor ist in diesem Zusammenhang die Produktion der Musik mit Hilfe (zumeist digitaler) Medien wie einer Digital Audio Workstation. Ein analytisches wie sozial-mediales Phänomen mit musiktheoretischen Bezügen soll in diesem Vortrag besonders in den Fokus gerückt werden: Nachkonstruktionen. In sog. Reconstructed-Videos und -Tutorials zeigen (häufig sog.„Bedroom“-)Producer in Do-it-yourself-Anleitungen und mit einem Esprit künstlerischen Forschens, wie man Song- oder Sound-Vorlagen (zumeist aus den Charts) mit Hilfe musikbezogener Medien wie etwa einer DAW in Teilen klanglich und/oder stilistisch imitieren kann.
Diese popmusikalischen Stil-bzw. Klangkopien basieren dabei auf einem Fundus impliziten technischen und musikalischen Wissens, das erstens bisher kaum untersucht ist und zweitens für methodisch-didaktische und medienbasierte Überlegungen zu einer akademischen Musiktheorie populärer Musik durchaus hilfreich sein könnte.
Nach einer kurzen Einordnung einiger zentraler Problemfelder musiktheoretischer Auseinandersetzungen mit populärer Musik möchte dieser Vortrag vor allem anhand anschaulicher Praxisbeispiele Impulse für eine zeitgemäße Lehre von „Musiktheorie und populäre Musik“ geben, die zum Einen popmusikalische Bildungs- und Aneignungskultur auf sozialen Medien berücksichtigt und zum Anderen musiktheoretisches Arbeiten als mediengestütztes, künstlerisches Forschen interpretiert. Gerade im Hinblick auf die diversen Entwicklungen popularmusik-bezogener Studiengänge oder -schwerpunkte erscheint es vielversprechend, die damit einhergehenden Diskurse auch für die musiktheoretischen Fächer fruchtbar zu machen.
musiconn.publish (https://musiconn.qucosa.de/) ist das Open-Access-Repositorium für musikwissenschaftliche und musikbezogene Fachliteratur. Das vom Fachinformationsdienst Musikwissenschaft bereitgestellte Repositorium bietet aktuell Zugriff auf über 2000 monographische Veröffentlichungen und über 10 Fachzeitschriften, darunter bspw. Die Musikforschung und das Bach-Jahrbuch. Dabei wird das Repositorium aktuell für weitere Publikationsformen geöffnet und soll zukünftig neben PDF-Dateien auch Veröffentlichungen mit multimodalen und multimedialen Inhalten (Bildergalerien, Audios, Videos, Noten, Forschungsdaten, dynamische Statistiken usw.) in HTML und anderen Formaten ermöglichen (enhanced publications), wofür bereits Publikationen musiktheoretischer, musikpädagogischer und künstlerischer Forschung in Planung sind.
In einem 90-minütigen Workshop werden die gegenwärtigen und zukünftigen Servicebestandteile von musiconn.publish sowie die dahinterstehenden technologischen Entwicklungen vorgestellt und für eine weiterhin Community nahe Ausrichtung des Angebots mit den Teilnehmenden diskutiert. Im Mittelpunkt des Workshops stehen dabei insbesondere Fragen zur Rechteklärung, zur Langzeitarchivierung und Referenzierbarkeit, zur Rechteausweisung (CC-Lizenzen) und zu verschiedenen Open-Access-Modellen im Fachrepositorium und darüber hinaus. Anhand konkreter Beispiele sollen juristische Stolpersteine erläutert werden. Denn gerade im Bereich der künstlerischen Forschung sind die rechtlichen Fragestellungen beim Online-Publizieren komplex. Bei den u. a. mithilfe von Videoaufnahmen dokumentierten Performances sind nicht allein Urheber- und Leistungsschutzrechte, sondern auch Persönlichkeitsrechte vorab zu berücksichtigen, damit eine spätere Veröffentlichung überhaupt möglich ist.
Die Leistungen, die der FID für das elektronische Publizieren für Autor*innen und Herausgeber*innen bietet, sowie die etablierten Workflows und Kooperationen mit Verlagen und anderen Akteuren werden ausführlich besprochen. Der Workshop ist auf einen intensiven und offenen Austausch mit den Teilnehmenden ausgelegt. Rückfragen, Anregungen und die Anmeldung neuer Bedarfe sind herzlich willkommen!
Wenn die Musiktheorie einer Musik ihre Analyse zumutet, scheint es angebracht, umgekehrt einer Analyse auch eine Aufführung zuzumuten. Analyse (ἀνάλυσις) bedeutet ursprünglich »Auflösung, Zergliederung«, Performanz, von per formare, verweist hingegen auf den Gedanken des Zusammenfügens oder Ausbildens. Dieser Beitrag möchte das Verhältnis von Analyse und Kunst anhand eines ›klassischen‹ Beispiels durchspielen und Gottfried Webers Analyse des Beginns von Mozarts Dissonanzenquartett als Performance auf die Bühne bringen. In sprachlich markierter Weise inszeniert Weber seinen Analysetext als Erlebnis, bei dem der:die Leser:in verführt zu werden scheint, der uneindeutigen Klangsituation von Mozarts Beginn Gehör zu schenken (vgl. Fischer-Lichte 1998).
Wir befragen den musiktheoretischen Text im Close Reading als künstlerischen Gegenstand hinsichtlich dramaturgischer Hinweise. Das Gehör als Protagonist geht bei Weber auf der Suche nach Erkenntnis mehrfach durch die Anfangstakte und kann sich in der musikalischen Zeit und im musikalischen Raum multiperspektivisch bewegen (vgl. Moreno 2008 sowie Utz 2013). Sein Handlungsspielraum bleibt jedoch eingeschränkt. Es stellt Fragen, zweifelt und hat Entscheidungsoptionen. Gleichzeitig wird es aber auch von der Musik gereizt, befremdet und in die Irre geführt. Im Transformationsprozess für die Performance ist es uns ein Anliegen, die Diskursivität, die Webers analytischen Beobachtungen innewohnt, zum Vorschein zu bringen.
In interdisziplinärer Zusammenarbeit mit einer Musikdramaturgiestudentin und einem Regiestudenten werden Webers Regieanweisungen offengelegt und in eine Perfomance gebracht. Beim Kongress wird das künstlerische Ergebnis aufgeführt.
Ein essentieller Bestandteil ist neben der inhaltlichen Arbeit die Selbstreflexion als Musiktheoretiker:innen im Arbeitsprozess mit dem Text. Wie verändert sich der alltagsgewisse musiktheoretisch-analytische Zugang in der Konfrontation mit künstlerischen Fragen und Prozessen? Inwieweit führen wir Musikstücke auf, wenn wir eine Analyse im Unterrichtskontext kollaborativ (er)proben? Welche Macht- und Autoritätsverhältnisse wirken in einer Analyse?
Ein reflektierender Begleittext wird zur Verfügung gestellt, es ist jedoch kein mündlicher Vortragsteil vorgesehen. In der anschließenden Diskussion können Fragen an die Musiktheorie sowie Dramaturgie und Regie gerichtet werden.
My opera “La Locandiera”, based on the celebrated play by the eighteenth-century dramatist Carlo Goldoni, premiered in November 2022 in a performance involving students and associates of my university and which I directed personally from the harpsichord. Written in an elegant Classical style, “La Locandiera” pays homage to the late eighteenth-century Viennese opera buffa tradition. This project will provide the focus for my presentation, along with the following two theses:
1. My opera, composed in eighteenth-century style, is a form of contemporary art, participating in a growing creative movement centered around composition in historical styles. From this perspective, I will discuss certain aesthetic notions of authenticity, forgery, pastiche, etc. in an effort to situate such composition within a contemporary artistic context. I will also draw comparisons and discuss the relationship between composition in historical styles and various aspects of historically-informed performance (HIP). Paralleling each other in various ways, and my conception of the former largely stemming from the latter, HIP can offer insight into many of the issues and questions which face composition in historical styles.
2. Composition in historical styles can provide the foundation for artistic research, which I will demonstrate using examples from my opera. As such, I will examine and discuss some of the unique insights that this kind of composition can offer with respect to the music of the past, in particular its potential for elucidating the process of creation, artistic thought, and other issues of an inherently abstract nature which are otherwise difficult to pinpoint through the conventional scientific methods of music analysis and musicology.
In dieser Vortrag werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Jodelliedern und Barbershop-Arrangements heraus gearbeitet.
Jodeln wird das mitteleuropäische, insbesondere alpenländische Singen auf Lautsilben mit häufigem Wechsel Registerwechsel bezeichnet. Diese Jodel bilden in Jodelliedern den Abschluss zu textierten Strophen.
Barbershop ist ein amerikanischer A-cappella-Stil. Hierbei wird die Melodie in der zweitobersten Stimme intoniert. Ein "tag" bildet den Abschluss, bei welchem ein ausgehaltener Schlusston durch die umgebenen, wechselnden Harmonien ausgeschmückt wird.
Barbershop als originär amerikanische Musik und Jodel als vorwiegend alpenländische Musik werden mittlerweile beide in spezifischen Institutionen gefördert und bewahrt. In beiden Stilen werden Amateurgesangswettbewerbe veranstaltet, Weiterbildungen angeboten, Noten vertrieben und versucht die Musik zu erhalten. Durch diese Institutionalisierung wird zwar der Stil bewahrt, jedoch auch viele Neuerungsversuche unterbunden, wobei in neuester Zeit eine Öffnung zu erleben ist. Daher wird anhand der stil- und auch Institutionsgeschichte den Entwicklungen nachgegangen.
Formale, satztechnische als auch harmonische und melodische Aspekte werden somit wenig verändert und beibehalten. Diese Aspekte werden zum Ausgangspunkt genommen um spezifische Stileigenschaften herauszuarbeiten. Dazu dienen insbesondere die Jodelchorlieder von Willi Valotti und ausgewählte Barbershop-Arrangements als Anschauungsobjekt.
Tigran Hamasyan (*1987) ist ein armenischer Jazzpianist und -komponist, dessen Stil sich vor allem durch eine hohe rhythmische Komplexität, sowie durch Einflüsse aus traditioneller armenischer Musik auszeichnet. Insbesondere seine Alben ‚Shadow Theater‘ (2013) und ‚The Call Within‘ (2020) sind stark durch die Verwendung komplexer Rhythmustechniken geprägt, darunter beispielsweise polymetrische Strukturen, ungleichmäßige Taktunterteilungen, mikrorhythmische Fünfteilungen oder metrische Modulationen.
Im Rahmen des Vortrags soll anhand von Beispielen gezeigt werden, wie die Beschaffenheit solcher Phänomene mithilfe des aus Südindien stammenden Rhythmic Solfege (Rafael Reina, 2015) analysiert und verinnerlicht werden kann, welches in den letzten Jahrzehnten u.a. für die Rhythmuspädagogik an niederländischen Conservatorien immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. In Bezug auf Hamasyans Musik eignet sich dieser Ansatz besonders, da er nicht in erster Linie auf Notation, sondern vielmehr auf einem direkten Zusammenspiel von Wahrnehmung und Ausführung beruht.
Zudem soll unter Bezugnahme auf Untersuchungen von Fred Lerdahl und Ray Jackendoff (1983) auf Grundsatzfragen der metrischen Wahrnehmung eingegangen werden, wie beispielsweise auf die Frage nach Kriterien für das Empfinden einer metrischen Zählzeit, die sich beim Anfertigen von Transkriptionen in diesem Bereich unmittelbar stellt. Im Zuge dessen soll schließlich diskutiert werden, in welchen Aspekten Hamasyans Musiksprache über die von Lerdahl/Jackendoff vor allem für westliche klassische Musik aufgestellten Grundsätze hinausgeht und wie letztere dementsprechend erweitert werden könnten.
Was für eine Art Wissen wird durch Artistic Research generiert? Das ist eine wesentliche und zugleich eine der faszinierendsten Fragen zu diesem Thema. Henk Borgdorff (2012) zufolge ist es Ziel und Aufgabe künstlerischer Forschung, nicht-konzeptionelle Formen des Wissens und Verstehens zu „artikulieren, verstärken, kontextualisieren und durchdenken“. Was die Musik betrifft, sieht er die musikalische Analyse dagegen als ein Beispiel eines „verbal-diskursiven Ansatzes“ bei dem die Musik aus einer bestimmten theoretischen Distanz betrachtet wird – und damit eines eher traditionellen geisteswissenschaftlichen Programms. Tatsächlich findet man auf Plattformen wie dem Research Catalogue oder dem Journal of Artistic Research nur wenige musiktheoretische Beiträge.
In diesem Vortrag möchte ich aber argumentieren dass diese Sichtweise alte Vorurteile über die Musiktheorie bestätigt; in Wirklichkeit hat die musikalische Analyse, oder die Musiktheorie im Allgemeinen, bestimmt auch eine künstlerische Seite. Man könnte sogar sagen dass Musiktheorie-treiben eine Art von Musik-machen ist – womit die Musiktheorie geradezu zum Inbegriff musikalischen Artistic Researchs würde.
Eine Anerkennung dieses Potentials würde unserem Fachgebiet sicherlich gewisse organisatorische und finanzielle Vorteile bieten. Wichtiger und interessanter ist aber die Frage, wie das Artistic Research die Musiktheorie mit seiner Aufgabenstellung bereichern könnte. Die Idee, abstrakte musiktheoretische Begriffe seien nur als Annäherung an eine nicht-konzeptuelle musikalische Wirklichkeit zu verstehen, bietet die Möglichkeit dieser Frage nachzugehen. Da solche Begriffe meistens zeitliche Vorgänge andeuten, führt ihre Vermittlung im Unterricht häufig zu einer problematischen Reifizierung. In diesem Lecture-Recital werde ich anhand kleiner Klavierimprovisationen zeigen, wie (zum Beispiel) schon der Begriff „Kadenz“ weit mehr umfasst als er anzudeuten vermag. Hierbei geht es nicht um die Definition einer allgemein bekannten harmonischen Kategorie, sondern vielmehr darum, wie dieser Begriff bei der Kreation von Musik als „Erfindungs-Quelle“ (Mattheson) fungieren kann. Denn beschäftigt die Musiktheorie sich nicht auch mit der Poiesis, der Frage, wie Musik gemacht wird? Was all dies impliziert, lässt sich nur schwer in Worten ausdrücken – es handelt sich schließlich um wissenschaftlich noch weitgehend unerschlossenes Erfahrungswissen, das man mit gutem Recht als nicht-konzeptuell bezeichnen kann.
Borgdorff, H. (2012) ‘The production of knowledge in Artistic Research’, in: M.Biggs und H.Karlsson (Hg.), The Routledge Companion to Research in the Arts, London: Routledge, 44-63.
Neben den zahlreichen drei- und vierstimmigen Gesängen für Männerstimmen finden sich im Anhang der Neuen Schubert-Gesamtausgabe einige unvollständig überlieferte Kompositionen:
„Lied beim Rundetanz“, „Lied im Freien“, „Amors Macht“, „Badelied“, „Sylphen“ und „Lebenslied“ (D-Verz. Anh. I/18 – I/23).
Im Gegensatz zu den ebenfalls zahlreichen Fragmenten bei Schubert scheinen diese Werke vollendet worden zu sein - von diesen liegen jeweils vollständige Tenor-II-Stimmen vor, die aufgrund der Verbreitung in Stimmbüchern isoliert überliefert wurden; die restlichen Stimmbücher beziehungsweise Partituren sind verschollen. In hiesigem Beitrag werden vom Referenten angefertigte Rekonstruktionen dieser Stücke auf Grundlage der einzelnen Tenor-Stimmen vorgestellt und in diesem Zusammenhang auftretende Herausforderungen und Erkenntnisse erörtert. Grundlage ist eine eingehende Analyse sämtlicher mehrstimmiger Gesänge für Männerstimmen a-capella von Schubert unter besonderer Berücksichtigung der Mittelstimmen. Einerseits bietet die Vorgabe einer Mittelstimme – meist sind im Unterricht Melodie oder Bass gegeben – Raum für eigene künstlerische Entscheidungen hinsichtlich Harmonisierung und Melodieführung, andererseits engt eine bereits vorhandene Mittelstimme bei Gesängen ausschließlich für zwei Tenöre und ein bis zwei Bässe aufgrund des begrenzten Gesamtambitus’ die satztechnischen Möglichkeiten stark ein. Die unklare Datierung der Stücke (möglicherweise in den Jahren 1815 oder 1816 entstanden) sowie die bei der Rekonstruktion gesammelten Erfahrungen lassen Zweifel an der fehlerfreien Überlieferung oder gar der Autorschaft Schuberts aufkommen. So stehen beispielsweise zwei Tenor-Stimmen der angeführten Stücke, für Schubert untypisch, im Bassschlüssel; einige Stimmen verlangen nach satztechnischen Notlösungen wie Stimmaufteilungen, die sich ebenfalls bei Schubert im entsprechenden Korpus nicht finden lassen; aufgrund des begrenzten Spielraums hinsichtlich des Tonumfangs kadenziert „Das Lebenslied“ in ungewöhnlich tiefer Lage. Weiterhin soll in diesem Beitrag das Potenzial von Rekonstruktionen für den musiktheoretischen Unterricht ausgelotet werden: Über das mittels Analyse geschulte Handwerk zum Schreiben eines Chorsatzes in einer Stilistik des 19. Jahrhunderts hinaus, müssen u.a. Aspekte der Quellenkunde und der Biografik einbezogen werden. Das erzielte kompositorische Ergebnis kann abschließend mit anderen Sätzen von Schubert kritisch gemessen werden.
Flexibility versus Diversity in Interval-Sizes:
The unanswered question of Mojannab Intervals in Persian Dastgah Music
Modal music and microtones, going together in most cases, put the subject of interval-sizes in spotlight.
Despite efforts, we still face a rather chaotic amount of information on interval-sizes in many of modal music cultures; including Persian Dastgah music. Such information is not only diffused and disparate, but also inefficient in explaining the basic questions of perception of modal characteristics. Some musicians and musicologists have interpreted diffusion as flexibility (e.g. Farhat 1990); a statement with noticeable consequences and questions; such as: Is such flexibility accepted and practiced when professionals produce their music? Is such flexibility a result of imprecision in pitch-perception or tolerance caused by diversity?
In contrast to manuscripts on music, from Iran and its neighbouring cultures between 9th and 16th Centuries, that go into extensive details of interval-sizes and sets (Ajnas), Persian Dastgah system in the last two centuries is relying mostly on musicians’ ears, in intonation and precision of intervals; especially with key intervals in every Dastgah. The most characteristic of such intervals is Mojannab: the so-called neutral interval, loosely described as a three-quarter-tone, bigger than a semi-tone, smaller than a whole-tone.
There have been studies of Persian Dastgah intervals: a handful of them physically measured fret-distances on instruments belonging to masters (Osqueezadeh&Maulana 1995; Farhat 1990), a couple of studies measured frequencies of tones in recorded performances, hence the ratios for intervals (Barkeshli 1995; During 2006; Jeyranzadeh 2013), some have been using software analyses on recorded performances to obtain pitch-classes and then intervals in between (Sanati 2020; Shafiei 2021), and a few tried to relate the current intonation to either old manuscripts (Kiani 1989) or a systematic tuning concept to present the underlying structure in Dastgah tuning (Maulana 1999).
In this lecture, I will be looking at the possible hypotheses based on which we could re-orchestrate the study of such intervals. Such hypotheses should be formed around perception of each Dastgah, to see that we might be observing diversity and not flexibility; diversity that creates different modal entities.
Genesis gehören zu den einflussreichsten und prägendsten Musikgruppen des 20. Jahrhunderts. Seit Gründung der Band in den späten Sechzigerjahren nutzen die Mitglieder immer wieder neuartige Instrumente, um einerseits ihren symphonischen Sound zu kreieren, aber auch um das Ausscheiden von Musikern auszugleichen.
Zum Kernistrumentarium gehörten u.a. Synthesizer, Basspedale, Drumcomputer und das Mellotron. Alle diese Instrumente waren zu ihrer Zeit innovativ und auf höchstem technischen Standard. Dennoch hatten sie im Vergleich zu heutigen Instrumenten enorme Limitationen. Die daraus entstehenden Herausforderungen führten bei Genesis häufig zu interessanten Lösungen für ihre Kompositionen und manche dieser Aspekte wurden Teil ihres unverwechselbaren Personalstils.
In diesem Vortrag werden einige der verwendeten Instrumente besprochen und es wird anhand von ausgewählten Beispielen aufgezeigt, wie diese Instrumente direkten oder indirekten Einfluss auf die Kompositionen hatten.
Unser Konzept der „embodied music analysis“ (EMA) dient der Situierung von Musikanalyse im Kontext von Artistic Research (AR). Der Begriff EMA steht in englischer Sprache, um an das – für AR sehr relevante – Forschungsgebiet von Embodiment anzuknüpfen, und weil sich für die vielschichtige Begrifflichkeit des Embodiments im Deutschen kein einzelnes umfassendes Wort findet. Bezugnehmend auf existierende Definitionen (z.B. Dombois 2006, Crispin 2015), die innerhalb von AR-Prozessen zwischen künstlerischem „input“ (Forschungsmodus) und „output“ (Darstellung des Forschungsergebnisses) unterscheiden, stellen wir zwei sich spiegelnde Prozesse der EMA vor:
In unserem Modell von EMA können beide dieser Aspekte in einem Kreislauf miteinander kombiniert werden, also z.B. „embodied artistic input“ – Analyse – „artistic output“. Wichtig ist hierbei, dass die künstlerische Praxis mit der (musikanalytischen) Reflexion einhergeht. In einer durch EMA verstärkten Affinität zur künstlerisch-empirischen Forschung kann Musikanalyse also interessante und wertvolle Beiträge zu AR leisten.
Zur wissenschaftlichen Verortung von EMA im Kontext von AR adaptieren wir Modelle und Kriterien von Dombois und Crispin. In der angelsächsischen Musiktheorie hat die „performative Wende“ (Cook 2015) nicht nur Forschungen zur Analyse des künstlerischen Ausdrucks hervorgebracht (z.B. das Studium von Aufnahmen oder Aufführungen), sondern auch musiktheoretische Systeme inspiriert, die zu ergründen versuchen, wie Musik Bedeutung erzeugt. Relevant im Zusammenhang mit Embodiment sind hier Forschungen zur musikalischen Geste (z. B. Allanbrook 1993, Laws 2014) und zur Bedeutungsfindung durch die Verknüpfung musikalischer Prozesse mit verkörperten Erfahrungen (Abbate 1991, Fisher/Lochhead 2002, Cox 2016, De Souza 2017). Die Einführung von „Subjektivität“ als Qualität des musiktheoretischen Diskurses (Guck 1994, Cumming 2000) resoniert mit dem für AR wichtigen Aspekt der subjektiven Erfahrung als einer Kategorie sowohl des Schaffens als auch des Dokumentierens.
Ziel unseres Beitrags ist es, anhand von EMA spezifische Beispiele und Methodiken vorzustellen, durch welche Musikanalyse – als eine Teildisziplin der Musiktheorie – in und als Artistic Research praktiziert werden kann.
Abbate, Carolyn. 1991. Unsung Voices.
Cook, Nicholas. 2015. »Performing Research«
In Artistic Practice as Research in Music, 11–32.
Cox, Arnie. 2016. Music and Embodied Cognition.
Crispin, Darla. 2015. »Artistic Research and Music Scholarship.«
In Artistic Practice as Research, 53–72.
Cumming, Naomi. 2000. The Sonic Self..
De Souza, Jonathan. 2017. Music at Hand.
Dombois, Florian. 2006. »Kunst als Forschung.« HKB/HEAB 1: 23–31.
Fischer and Lochhead. 2002. »Analyzing from the Body.«
Theory and Practice 27: 37–67.
Guck, Marion. 1994. »Analytical Fictions.«
Music Theory Spectrum 16/2: 217–30.
Laws, Catherine. 2014. »Embodiment and Gesture in Performance« In Artistic Experimentation in Music, 131–141.
Die Pianistin Marilyn Nonken hat Skrjabin einen »Protospektralisten« genannt, er habe »ein intuitives Verständnis von Klangfarbe, Resonanz und von dem Verklingen des Klavierstons« (Nonken 2016). Nonken verweist auf von Skrjabin bespielte Klavierrollen und Berichte davon, wie subtil Skrjabin, während er gedruckte Noten nur sparsam mit Pedalangaben versah, das Haltepedal beim Spiel eigener Klavierstücke einsetzte. Zwar stellt Nonken Skrjabins Ästhetik und deren Gemeinsamkeiten mit spektralen Ansätzen ausführlich dar, doch behandelt sie keine konkreten Werke. Offen bleibt daher die Frage, welche Merkmale protospektralen Komponierens bei Skrjabin tatsächlich auftreten. Der Vortrag berichtet davon, wie dies durch eine instrumentatorische Versuchsanordnung im Detail erforscht wurde.
Spektralistische Komponisten betrachten Toneigenschaften wie Register, Dynamik, Klangfarbe oder Tonhöhen und die daraus gewonnene Harmonie als Einheit. Durch die kompositorische Thematisierung (harmonischer und inharmonischer) Spektren kommt es zum Einbezug von Mikrotönen, und wesentlich sind bei der Konzeption die Wahrnehmung und der Zeitverlauf. Für Gérard Grisey war der Spektralismus »keine geschlossene Technik, sondern eine Einstellung« (Grisey 2008). Wenn in Skrjabins Klaviermusik der Anschein von spektraler Musik nicht (wie Georg Friedrich Haas mit Skrjabins Op. 68 erprobte) durch ihr notiertes Musikmaterial erweckt wird, so vielleicht durch die Tatsache, dass der Komponist die Toneigenschaften als Einheit auffasste.
Vorgestellt wird in dem Vortrag ein Projekt, mit welchem protospektralen Eigenschaften von Skrjabins Klaviermusik zur Kenntlichkeit verholfen wurde. Ausgangspunkt war die Hypothese, dass eine instrumentatorische Ausarbeitung eine hintergründige protospektrale Harmonie zum Vorschein bringen kann. Während spektrale Resonanzräume sich über das Klavierpedal nur andeutungsweise erzeugen lassen, können jetzt Mikrotöne verwendet werden, sodass zwei Anforderungen an Spektralismus erfüllbar sind: Erstens können höhere Naturtöne vorkommen und zweitens ist auf diese Weise Inharmonizität erreichbar.
Für die Überprüfung der Hypothese habe ich die Forschungsmethode gewählt, kurze Ausschnitte ausgewählter Klavierwerke Skrjabins in jeweils mehreren Versionen für ein gemischtes Ensemble von Bläsern, Streichern und Klavier zu setzen. Die instrumentierten Ausschnitte wurden (mittels der Methode einer Befragung der ausführenden Musiker*innen) verglichen. Deutlich wurde, welche Instrumentierungen protospektrale Elemente verstärkten und ins Zentrum des Klanggeschehens rückten und wo im Gegenteil durch spektrale Manipulation der Anteil aufscheint, den inharmonische Resonanzräume bei der Konzeption von Skrjabins Klaviermusik hatten. Die Ergebnisse des Projekts werden auszugsweise während des Vortrags präsentiert.
In Moritz Hauptmanns Theoriesystem wird die reine Stimmung impliziert, wenn er »drei direct verständliche Intervalle« zum Ausgangspunkt erklärt; weiterentwickelt wird seine Notation in Groß- und Kleinbuchstaben im folgenden Diskurs durch Hermann von Helmholtz und Arthur von Oettingen zur »Buchstabentonschrift«, die das syntonische Komma auch mehrfach berücksichtigt. Sowohl Oettingen als auch Hugo Riemann knüpfen an Leonhard Eulers Tonnetz an; bei letzterem mündet der Diskurs in Schreibweisen zu Unterklängen als »Klangschlüssel« und einer noch dualistisch geprägten Funktionstheorie.
Beginnend mit Helmholtz, der im Rahmen seiner akustischen Experimente auch ein rein gestimmtes Harmonium beschreibt, folgen sein Schüler Shōhei Tanaka, der über die reine Stimmung promovierte, Oettingen und Riemann mit jeweils direktem Bezug zu Helmholtz und eigenen Versuchen. Bei Tanaka und Oettingen entstanden in Zusammenarbeit mit Instrumentenbauern Harmonien in reiner Stimmung.
Für den Harmonischen Dualismus ist die reine Stimmung insofern grundlegend, als dass hier Dur- und Molldreiklänge als naturgegeben konsonante Klänge mit reinen Intervallen der Obertonreihe und deren Spiegelung hergeleitet und theoretische Systeme auf dieser Basis konstruiert werden.
Implikationen bei Hauptmann, dessen System alle weiteren am Dualismus-Diskurs im 19. Jahrhundert Beteiligten elementar beeinflusste, lassen die reine Stimmung an Bedeutung gewinnen. Die sich zeitgleich in der Praxis durchsetzende gleichschwebende Temperierung war in diesem Diskurs allerdings nie Option. Ein physikalischer Ursprung als naturgegebene Legitimation insbesondere des Molldreiklangs einerseits und die ästhetische Perspektive im Sinne mikrointervallischer Konsonanz ganzer Theoriesysteme andererseits hatten mittels praktischer Experimente Einfluss auf den Instrumentenbau; Riemanns in diesem Kontext konstruierten Untertöne blieben als spekulative Theorie physikalisch unbelegt. Eine Vision, die reine Stimmung im bürgerlichen Wohnzimmer zu etablieren, und den Dualismus in der kompositorischen Praxis, bestimmt das Denken am Diskurs beteiligter Autoren.
Die Musiktheorie hat in den letzten Jahrzehnten eine enorme Weiterentwicklung erfahren. Weniger im Fokus stand dagegen die Frage, welche jüngeren Forschungsergebnisse sich prinzipiell für den Transfer in den Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen eignen und wie diese didaktisch so aufbereitet werden können, dass sie ihn bereichern und dennoch nicht grundlegend verfälscht werden. In diesem Zusammenhang ist auch grundsätzlich zu überdenken, welchen Platz Musiktheorie in einem zeitgemäßen Musikunterricht einnehmen könnte und sollte.
Schon 1932 konstatierte Carl Orff: „Die Musik fängt im Menschen an, und so die Unterweisung“. Dabei unterschied er streng zwischen einer so benannten „Urmusik“ und einer Kunstmusik, also einer unmittelbar zugänglichen und ausführbaren sowie einer artifiziellen, schwerer zu rezipierenden und vor allem zu praktizierenden. Seinen Ausführungen fügte er den Hinweis an, „[d]as kindlich primitiv Schöpferische“ sei „von einer ungeheuren Kunsttradition überschattet“. Bis heute ist dies täglich in der Schule zu erleben, wo sich die reflektive Auseinandersetzung mit Musik in den seltensten Fällen mit der faustischen Frage nach dem beschäftigt, „was die Musik im Innersten zusammenhält“. Vielmehr geht es nach wie vor meist darum, Musik unter Verwendung von mehr oder weniger angemessener Fachsprache zu elementarisieren und in ihre Parameter zu zerlegen, was Hans Heinrich Eggebrecht schon in den 1980er Jahren mit Blick auf die von ihm verfolgte Schulwirklichkeit in einer gymnasialen Oberstufe von „Gänsefüßchenunterricht“ sprechen ließ.
Das geplante Panel beginnt mit einem Impulsvortrag zu der Frage, wie eine Auseinandersetzung mit Musik „im Menschen“ anfangen kann, sodass sie auf konstruktivistischen Zugängen und nicht auf angelerntem Begriffswissen beruht. „Allgemeine Gestaltungsprinzipien als Schlüssel und Begleiter für das Verstehen von Musik“ (Richter 2012), die es erlauben, dass Schüler*innen ihr implizites Wissen einbringen, erfordern es, dass weniger von einer einheitlichen Theorie, sondern eher von vielfältigen theoretischen Zugängen gesprochen werden muss. Will man die individuellen Konzeptionalisierungen aus eigenen Lebenszusammenhängen und verschiedensten musikalischen Praxen heraus aufgreifen, um sich dann analytisch mit den behandelten Musikstücken auseinanderzusetzen, gilt es, jene monodimensionalen Perspektiven aufzubrechen, welche die Musiktheorie längst verlassen hat.
Diesen Erwartungen, die sich sowohl an den Musikunterricht als auch an die hier zu diskutierende Bezugswissenschaft der Musiktheorie richten, entgegnet dann eine Response, in der die Schulwirklichkeit dargestellt wird, auf die diese hehren Anliegen treffen. Prüfungsformate beruhen bis heute in den seltensten Fällen auf einem souveränen Umgang mit musiktheoretischem Denken, sondern verstricken sich in ihrer vermeintlich wissenschaftspropädeutischen Herangehensweise meist in einer schulgerecht adaptierten allgemeinen Musiklehre, die es sich trotzdem erlaubt, von „Theorie“ zu sprechen. An authentischen Aufgabenstellungen soll der aktuelle Status quo ebenso aufgezeigt werden wie gelegentlich aufscheinende Ideen zu dessen Weiterentwicklung und Veränderung.
Abschließende Überlegungen veranschaulichen, dass in der Schule praktizierte Vorgehensweisen dazu führen, dass nicht mehr die Musik als klingendes Ereignis, sondern nur noch deren Rezeption im Mittelpunkt steht. Denn würde das Musikhören und Musizieren vernachlässigt, wäre die Musik als Klangereignis austauschbar und ginge dem Musikunterricht im schlechtesten Fall sogar gänzlich verloren. Die Frage ist also, welche Zugänge für eine Beschäftigung mit ›Musik als Musik‹ geeignet sind und welchen Beitrag die Musiktheorie für die Bereitstellung entsprechender Modelle leisten kann.
William Caplin’s (Classical Form, 1998) theory of thematic hybrids and Clemens Kühn’s (Formenlehre der Musik, 1987) concept of thematic Mischungen (mixtures) provide two similar solutions to a significant problem in the analysis of themes: cases that are not clearly sentences or periods. Hybrids and Mischungen produce contrasting analytical results, detailed in this presentation, but particularly different theoretical emphases. Caplin and Kühn’s theories of form are based on fundamentally different models of musical temporality. On the one hand, Caplin theorizes that there are a limited set of temporal relationships a passage may fulfill: beginnings, middles, ends, before-the-beginnings, and after-the-ends. On the other hand, Kühn argues that there are a limited number of ways one passage may relate to another passage, in terms of content: repetition (AA), variation, difference (AAʹ), contrast (AB), and unrelatedness.
In his theory of hybrids, Caplin demonstrates a set of combinations between different phrases (such as presentation and antecedent) which generate a range of hybrid theme types concatenating periodic with sentential phrase structures. Kühn develops a theory of Mischung which describes how themes may integrate sentential and periodic traits more generally. This includes effects across entire themes where features of each primary theme type integrate on various levels of structure. Kühn categorizes Mischungen according to four archetypes: sentence with periodic antecedent; period with sentential antecedent; overlayed themes; and escalation.
By investigating Kühn’s four musical examples of the categories of Mischung (Haydn Hob XVI/27 Finale; Beethoven Op. 49 No. 2 second movement; Beethoven Op. 2 1 second movement; and Mozart Violin Concerto in A K219 third movement), I explore how the two theorists’ views of the similar topic differ analytically before expanding to consider their contrasting theoretical frameworks. Despite the differences in their concepts of hybridity and Mischung, both reveal the influence of their teacher Carl Dahlhaus and bear comparison with the theorist’s “Satz und Periode: zur Theorie der musikalischen Syntax” (1978). I conclude the presentation with a discussion of the passages of influence implied by the similarities in Caplin’s and Kühn’s theories in the context of Dahlhaus’s work and teaching.
Eines der großen Versprechen der Digitalisierung von musikalischen Daten ist die Möglichkeit zur (automatisierten) quantitativen Erfassung musikalischer Phänomene. Doch wie genau kann man sich ohne tieferes mathematisches Vorwissen einer statistischen Auswertung nähern? Und welche Arten der statistischen Auswertung sind überhaupt sinnvoll und führen zu einem Erkenntnisgewinn?
In diesem Workshop wird eine Einführung in die modellbasierte Analyse musikalischer Datensätze gegeben. Modelle in diesem Kontext beschreiben den Zusammenhang zwischen den beobachteten Daten und den zu inferrierenden latenten Variablen. Sie kodieren damit die Annahmen über den Problembereich, die bei der Analyse gemacht werden sollen, in einer expliziten Form. Bayessche Statistik bietet Methoden, mit denen ein solches Modell mathematisch ausgedrückt und für automatische Inferenz nutzbar gemacht werden kann. Diese mathematische Beschreibung von Modellen ähnelt einem Baukastensystem, das zum einen mit minimalem mathematischem Vorwissen genutzt werden kann und zum anderen eine große Flexibilität zur Erfassung komplexer Zusammenhänge bietet. Damit kann die quantitative Auswertung von Daten weit über bloßes Zählen hinausgehen.
Der Workshop bietet einen Überblick über den modellbasierten Ansatz und seine Bedeutung für die Musiktheorie, sowie eine kurze Einführung in Bayessche Statistik. Die praktische Umsetzung statistischer Analysen wird anhand von musikbezogenen Beispielen demonstriert. Im Anschluss besteht die Möglichkeit zur Diskussion von eigenen quantitativen Fragestellungen und deren Umsetzung. Programmierkenntnisse und mathematische Vorkentnisse (grundlegende Wahrscheinlichkeitstheorie) sind nützlich aber nicht erforderlich.
Die Alleinstellungsmerkmale des Prometheus von Alexander Skrjabin (1909/10) bilden zwei zusammenhängende Aspekte: einerseits die Klangzentrumharmonik, die der Komponist hier zum ersten Mal in einem großen Orchesterwerk überaus konsequent anwendet und andererseits die Besetzung eines neuartigen Farbenklaviers. Der Grundstein der Klangzentrumharmonik Skrjabins ist der sogenannte Prometheus-Akkord, ein sechstöniges Gebilde, das mit seinen zwölf Transpositionen die einzige Quelle des gesamten harmonischen und melodischen Geschehens darstellt. Das Farbenklavier ist ein vom Komponisten konzipiertes Tasteninstrument, das zwölf verschiedene Farblichter strahlen kann. Diese Farben verbindet der Komponist synästhetisch mit den jeweils erklingenden Transpositionen. Aufgrund der Korrelation zwischen der Farbenklavier-Stimme und den verwendeten Transpositionen, bildet dieses Instrument ein unverzichtbares Werkzeug für die Analyse des Prometheus.
Impulsgebend für die Beschäftigung mit diesem Werk war die Tatsache, dass in der Literatur, trotzt der Begrenztheit an verfügbaren Akkorden innerhalb der Prometheus-Klangzentrumharmonik, keine Versuche unternommen wurden, die Harmonik dieses Stücks systematisch zu untersuchen. Dies könnte an der unklaren Notation der Farbenklavier-Stimme liegen, die in der Skrjabin-Forschung bereits bemängelt wurde und die in der aktuellen Eulenburg-Edition von 1980 weiterbesteht. Um eine zuverlässige Basis für die Analyse des Prometheus zu schaffen, wurde im Rahmen dieser Untersuchung der Farbenklavier-Part revidiert und neu geschrieben.
Die Analyse konzentriert sich auf zwei Aspekte, die neue Einblicke in die Klangzentrumharmonik Skrjabins geben sollen. Der erste Aspekt beschäftigt sich mit der Frage, ob im Prometheus alle zwölf Transpositionen des Klangzentrums gleichberechtigt behandelt werden, oder ob manche dieser Transpositionen auf irgendeine Weise den anderen übergeordnet sein könnten. Die Ganztönigkeit, die den Prometheus-Akkord prägt, deutet allerdings auf einen Doppel-Modus hin, der die Analyse in eine andere Richtung lenkt. Beim zweiten Aspekt geht es um das Verhältnis zwischen Klangzentrumharmonik und Sonatenhauptsatzform. Wie koexistieren eine von der Dur-Moll-Tonalität abhängige Form und dieses harmonische System? In der Klangzentrumharmonik Skrjabins lassen sich gleichzeitig Rückgriffe auf die Tradition und ein fortschrittliches Denken erkennen, die die Bezeichnung dieser Musik als tonal oder atonal erschweren.
The epistemological rift between Schenkerian and neo-Riemannian theory runs deep. Particularly in relation to questions of musical time, this rift has profound hermeneutic implications, as can be glimpsed, for example, through a comparison of David Beach’s and Suzannah Clark’s interpretations of the opening exposition of Schubert’s G major String Quartet D. 887. Whereas Beach’s Schenkerian reading highlights with reference to the tonic-dominant axis a teleological — ‘end-accented’ — orientation of the musical discourse, effectively attributing to it a sense of ‘narrative’ time as habitually associated with Beethoven’s heroic style, Clark’s neo-Riemannian perspective discerns in the hexatonic cycling woven into the tonal geometry a fingerprint of Schubert’s ‘lyrical’ imagination, a mode of suspended temporality that she considers decisively ‘non-Beethovenian’ (or, indeed, uniquely ‘Schubertian’). Owing to the specific epistemological calibrations built into each respective theoretical lens, these two interpretations reveal a basic hermeneutic-logical contradiction: (how) is it possible that the same music is teleological and non-teleological at once?
The aim of this paper is to critically reappraise this contradiction. While carrying no real weight in the arena of music analytical plausibility, this contradiction drills down to the bedrock of all modern (post-Gadamerian) hermeneutic philosophy: the cardinal problem that the ‘truth’ produced by a certain ‘method’ is critically shaped by it. Drawing upon Nelson Goodman’s concept of ‘world versions’ — a solipsistic-constructivist theory of conceptualising truth claims — this paper explores to what extent opposing interpretations of musical time can be understood as representing different ‘versions’ arising from the multivalent symbol system which makes up the individual work, the ‘world’. Once cast in this light, the epistemological inconsistencies underpinning the hermeneutics of musical time can be reframed as heuristic opportunities, rather than impasses, in the way that they engage us to rethink the normative grounds for claims about musical time without all too conveniently essentialising it.
As Steven Vande Moortele (2015) notes, Theodor Adorno has faced divergent receptions within English-speaking contemporary music theory and musicology. Adorno’s ideology critique of modernity and the culture industry was especially influential on the so-called ‘New Musicology’ of the 1990s, whose elevation of historical-cultural context foreshadows recent musicological preoccupations with political activism and social justice. Although musicology’s contextual-political turn problematises theory and analysis’s traditional focus on the musical object, this criticism remains at odds with Adorno’s (1982) wider account of music analysis (Horton 2020). While Adorno’s own ‘materiale Formenlehre and his categories of Breakthrough, Suspension, Fulfilment, Collapse, etc. have received some attention (Paddison 1993; Wedler 2013), his music theory remains largely neglected within contemporary formal theory, the ‘New Formenlehre’ initiated by Caplin’s Form-functional Theory and Hepokoski and Darcy’s Sonata Theory. This uneven reception has obscured Adorno’s particular music theory and its musicological implications.
This paper reconsiders Adorno’s relevance for contemporary musicology and music theory through the concept of Breakthrough (Durchbruch). Breakthrough provides a rare intersection between the New Musicology’s contextual focus and the New Formenlehre’s engagement with the music itself. First popularised in Adorno’s (1971) seminal Mahler book, this intrusive formal event – which critically alters a symphony’s formal and expressive narratives – undermines comprehensive theoretical understanding and resists a standardised account. Within Adorno’s materiale Formenlehre, Breakthrough constitutes an exceptional moment that facilitates ideology critique, particularly in Beethoven and Mahler’s symphonies. Adorno’s emphasis on Beethoven and Mahler is reinforced by James Buhler (1996), who builds on Bernd Sponheuer to emphasise Breakthrough’s “immanent critique” of form. James Hepokoski (1992), contrastingly, originates Breakthrough with Schumann and normalises it as a standard nineteenth-century procedure within the New Formenlehre. These conceptual divergences from Adorno are compounded by additional contributions which locate Breakthrough in a wider range of nineteenth-century European repertoire, thereby complicating its characteristics. By untangling Breakthrough's complex reception history, this paper reconciles Adorno’s account with the New Formenlehre to clarify the concept's deconstructive, critical potential. The resulting framework of Breakthrough enhances contemporary formal discourse and recontextualises the centrality of music theory for musicology’s contemporary socio-political impact.
Experimentation with musical instrument-objects has been central to contemporary music of the past 60 years. High-constraint ‘found’ objects, ‘homemade’ instruments, hybrid found/homemade-classical instruments, rudimentary electronics, interfaces, prepared classical instruments, and so-called ‘extended techniques’ have shaped musical expression. The ‘performance turn’ triggered a practitioner-led refocusing of music research. And yet, this new instrumentarium, so fundamental to today’s music, and to today’s performers, has received surprisingly little research attention. Physical and musicological research lags behind practice, and the ‘cataloguing’ tendencies of composer-led work has had the effect of discretizing actions and sounds that can often be expressed in continuous scales bounded by action-sound parameters. Moreover, Sachs’ organological classifications of musical instruments by their materials and playing techniques has remained almost unchanged since its first publication in 1940.
In his monograph on the philosophy of science, Baird (2004) describes a ‘text bias’ in the history of science that has undervalued scientific instruments in favour of theory such that the epistemology of instruments, their ‘thing knowledge’, and its contribution to scientific understanding has not been recognized. Could the same argument be made for musical instruments? New luthier Thor Magnusson describes the epistemology of musical instruments as their containing of a music theory (Magnusson 2019). Could performance practice and composition practice be described as an unravelling of the music theory intrinsically contained in a music instrument object? The application of this idea to music instruments has much to offer found, adapted, and homemade instruments, and classical instruments that are prepared and played in ways that were not intended by the original instrument makers, but are nonetheless highly idiomatic. Lachenmann’s musique concrète instrumentale aims to liberate sound from music-historical baggage by asserting the acoustical connections between instruments, actions, and sounds, without prioritizing historically more weighted techniques (Lachenmann 2004). Not only is the knowledge of the sound-producing actions of an instrument central to this concept, but also the communication of this ‘thing knowledge’ to performer and audience. In this presentation I will discuss how to define and extract musical instruments’ ‘thing knowledge’ and the implications for a re-thinking of organology.
Komponist:innen der Wiener Klassik und vor allem des 19. Jahrhunderts haben häufig Elemente aus eigenen Liedkompositionen in späteren Werken wiederverwendet. Vokale Melodien können beispielsweise als Thema eines Variationensatzes oder als Vorlage für ein Instrumentalwerk in größerer Besetzung eingesetzt werden; Beispiele für ein solches Vorgehen finden sich in großer Zahl bei Franz Schubert sowie bei Fanny und Felix Mendelssohn, Robert und Clara Schumann, Franz Liszt, Johannes Brahms, Gustav Mahler und vielen anderen. Auch die US-amerikanische Komponistin Amy Beach (1867–1944) hat, in Anknüpfung an die genannten Vorbilder, verschiedene Strategien der Rekomposition von Gesangsthemen angewandt, die bei der Untersuchung von Kompositionstechniken in der Nachfolge der deutschsprachigen Liedkomponist:innen bisher weitgehend unbeachtet geblieben sind. Beachs eigenes umfangreiches Liedschaffen diente ihr, ebenso wie Volkslieder aus dem englischen, irischen und schottischen Raum, vielfach als Inspirationsquelle und Material für Klavierstücke, kammermusikalische und symphonische Werke. Ein erstes prägnantes Beispiel ist die Umarbeitung eines frühen Liedes, der Burns-Vertonung My luve is like a red, red rose op. 12 Nr. 3 (1887), zu der Ballade für Klavier op. 6 (1894): »the Ballad is the song writ large«, wie Beachs Biographin Adrienne Fried Block es ausdrückt.
In diesem Beitrag erörtere ich, inwiefern Amy Beachs Rückgriffe auf ihre früheren Vokalkompositionen über die Funktion von bloßen Zitaten oder adaptierenden Instrumentationen hinausgehen, indem sie eine intertextuelle und gattungsübergreifende Verbindung der beteiligten Kompositionen herstellen. Bei Wiederverwendungen dieser Art kann es zu einem re-working bzw. re-cycling im Sinne einer ersten und autonomen zweiten Fassung kommen, oder es entstehen Werkpaare, bei denen die spätere Komposition mit der früheren, auf der sie basiert, auf verschiedenen Ebenen interagiert und eine eigenständige Neuschöpfung hervorbringt, die mehr Transformation als Transkription ist. Das analytische Potential solcher generativen Wechselbeziehungen möchte ich anhand einiger weiterer Beispiele aus Beachs Schaffen, etwa der Gaelic Symphony op. 32 (1894–1896) und des viersätzigen Klavierkonzerts op. 45 (1899), darstellen.
Some of Hugo Riemann’s harmonic theories have experienced a revival in the US-music theory since the late 20th century. Indeed, Richard Cohn’s work has been an evident milestone for the development of Neo-Riemmanian theories within the field of transformational analysis for tonal repertoires. For instance, focusing on parsimony, instead of privileging functionality, has proven extremely useful for the analysis of many passages of 19th-century chromatic music.
The Neo-Riemmanian approach also provides opportunities for creative thinking and the generation of new scientific knowledge beyond the strict limits of musical analysis. On the one hand, the basic aspects of parsimonious transformations of chords can be mathematically formalized; such a formalism can be exploited to conceive compositional rules by means of particular restrictions in the voice leading and distribution of a pooled reservoir of chords. On the other hand, the use of Neo-Riemmanian visual representations like the Tonnetz may help to explore multimodal aspects of the way we conceptualize music by means of visual patterned structures.
Our lecture-recital is aimed at providing elements of both perspectives mentioned above. We will firstly summarize the key features of the Neo-Riemannian theories for those who are unfamiliar with this approach by using an interactive web application developed within the SMIR (Structural Music Information Research) Project. This introduction will be followed by an explanation of mathematical models of voice-leading strategies for composition, based on graph-theoretical concepts, such as Hamiltonian cycles within the Tonnetz. These ideas will be illustrated through some poetry-based pop songs. For a more meaningful explanation, some of these musical examples will be also accompanied by visual animations of the underlying Neo-Riemannian representations. This audiovisual interaction will prepare the audience for an overall presentation of our current empirical research on multimodal insights of the Tonnetz. We will devote the second part of the lecture-recital to the discussion of the outcomes of an experiment with musicians and non-musicians interacting with computer-based representations within the Tonnetz, and some additional aspects we are exploring in a second ongoing experiment. We will summarize the main results obtained so far and their implications in the context of music theory education.
Zu den weitreichenden Konsequenzen, die die akademische Etablierung der Künstlerischen Forschung zeitigt, gehört die zunehmende Aufhebung der Dichotomie zwischen Kunstwerken als der objektiven und deren Erforschung als der subjektiven Seite ästhetischer Erkenntnis. Dass der Begriff der Erkenntnis an sich selbst die Kategorie der Zeit impliziert, bedingt deren grundlegende Bedeutung für die Einsicht in das komplexe Wechselverhältnis jener beiden Momente. Einen selten beleuchteten Aspekt bildet hierbei die spezifische Konstellation zwischen der historischen Entwicklung musikalischer Elemente und derjenigen, die diese im Verlauf eines einzelnen Werks erfahren.
Um die Tragweite dieser Konstellation zu erhellen, zeichnet der Vortrag die Entstehung eines der markantesten Akkorde der spättonalen Musik nach: die des aus drei kleinen Terzen und einer großen Terz gebildeten Fünfklangs. Ausgehend von dessen Verwendung als Vorhaltskonstruktion, wie sie bei Wagner begegnet, werden einige ähnlich bemerkenswerte Stellen betrachtet, an denen dasselbe, ganz neuartig wirkende Gebilde bereits zuvor erscheint, und zugleich ihre Unterschiede hinsichtlich der Stimmführung, der harmonischen Funktion und des Höreindrucks herausgearbeitet. Dabei tritt eine weitere, ab dem frühen 18. Jahrhundert in Orgelpunktzusammenhängen verbreitete historische Wurzel des Akkords zutage. Nach einer Untersuchung der Veränderungen, denen sie bei Fr. Couperin, J. S. Bach, Beethoven, Berlioz, Liszt, Franck und anderen unterliegt, werden einige entscheidende Passagen aus Parsifal genauer in den Blick genommen. Es zeigt sich, dass der soeben dargestellte geschichtliche Prozess dort sukzessive rekonstruiert wird und die verborgene Verwandtschaft zwischen dem exzeptionellen und dem konventionellen Phänomen nach und nach zum Vorschein kommt. Diese immanente Vermittlung der beiden wirkt sich auch auf semantischer und interpretatorischer Ebene aus, insofern sie sich unter Berücksichtigung des Librettos und der dramatischen Personen als eng verbunden mit dem Sujet der Erlösung und Versöhnung erweist.
Die Ergebnisse lassen auf das analytische und hermeneutische Potential eines Ansatzes schließen, der die subjektiv erzeugte innere Entwicklung musikalischer Werke und die objektive geschichtliche Bewegung ihres Materials in Beziehung zueinander setzt. Statt als bloßes Objekt partikulärer Erfahrung und Analyse einerseits und genereller historischer Situierung andererseits zu figurieren, gerät das konkrete Werk vermöge seiner prozessualen, dem Erkennen nachgebildeten Struktur selbst zu einem Organ ästhetischer Reflexion.
Der Beitrag hat zum Ziel, die sich aus künstlerischer ebenso wie wissenschaftlicher Sicht ergebenden Implikationen eines modalen Ansatzes in historischer und aktueller Improvisation stilgebundener westlicher Musik nachzuverfolgen.
Modale Improvisation wird in westlichen Kulturkreisen primär mit modal jazz oder außereuropäischer Musik in Verbindung gebracht. Aber auch in Stilen klassischer Musik, des Pop oder anderen Sparten des Jazz finden modale Improvisationstechniken Verwendung. Diese zu analysieren und mit eher tonalen oder harmoniebezogenen Improvisationstechniken zu vergleichen, kann dabei sowohl die Improvisationsfähigkeiten als auch das theoretische Verständnis bereichern.
Auf spielpraktischer Ebene beeinflusst das Denken in modalen, tonalen oder harmonischen Zusammenhängen unterschiedliche melodische Aspekte, wie etwa Phrasierung, Formgestaltung, Tonwahl und viele weitere. Häufig führt dies zu stiltypischen Merkmalen einer Epoche oder eines Genres. Für den ausübenden Musiker kann somit eine theoretische Betrachtung dessen insbesondere für den Bereich der stilgebundenen Improvisation nützlich sein. Andersherum eröffnet die Analyse verwendeter Improvisationstechniken Einsichten auf eine bestimmte Epoche oder einen bestimmten Stil prägende Einflüsse, didaktische Prinzipien und musikalische Struktur.
Vorgestellt werden Analysen modaler, tonaler und harmoniebezogener Improvisationskonzepte in Stilen klassischer westlicher Musik, des Jazz und der Popularmusik. Im Kern steht dabei die Frage nach den Grundprinzipien melodischer Improvisation und der Anwendung und Interpretation modaler Improvisationstechniken. Innerhalb des zeitlichen und stilistischen Rahmens lassen sich dabei wechselseitige Einflüsse, Gemeinsamkeiten und Unterschiede nachzeichnen. Dabei werden Themen wie außereuropäische Melodiekonzepte, historische und aktuelle Improvisationspraxis, die Diskussion „modaler“, „tonaler“ und „harmoniebezogener“ Musik, Genrecharakteristika stilgebundener Improvisation sowie gesamtmusikalische Ideen und Konzepte gestreift.
Die Performance ist inspiriert von den sogenannten Laborräumen eines Forschungsprojektes von Corinna Eikmeier mit dem Titel: Bewegungsqualität und Musizierpraxis. Zum Verhältnis von Feldenkrais-Methode und musikalischer Improvisation. In dem Projekt stand die Forschungsfrage an erster Stelle, wie die spezifischen improvisatorischen Handlungsweisen mit der Bewegungsqualität der Musizierenden in Beziehung stehen. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Qualität der Bewegungen sich in der Improvisation und Interpretration signifikant unterscheiden, wurde die improvisatorische Handlungsweise in den Mittelpunkt des Projektes gerückt. Zunächst wurde eine für das Projekt gültige Definition der improvisatorischen Handlungsweise aus den Daten von 10 Forschungsgesprächen entwickelt. Improvisation wird hierbei methphorisch als „Autopoeisis“ in der Gegenwart beschrieben, wobei die Wahrnehmung die Komponenten der Improvisation zusammen hält. Sobald der Spieler sich mental in andere Zeitebenen begibt, wird der improvisatorische Prozess geschwächt.
Die Forschungsfragen waren:
Gibt es spezifische Handlungsweisen, die für das Improvisieren bedeutsam sind?
Gibt es eine Wechselwirkung zwischen den spezifischen improvisatorischen Handlungsweisen und der Bewegungsqualität beim Musizieren?
Das Forschungsdesign lehnt sich an die qualitative Heuristik an und wird durch Prinzipien der künstlerischen Forschung erweitert. In dem Vortrag wird hierbei ein Teilaspekt beschrieben, indem in qualitativen Experimenten Bewegungsinterventionen während des Improvisierens zu in den Improvisationen hörbaren Veränderungen der improvisatorischen Handlungsweise geführt haben. Im Sinne der artistic research sprechen die Improvisationen als generierte Daten ihre ganz eigene Sprache und entziehen sich konventionellen Analysen.
Es wurde in qualitativen Experimenten in virtuellen Laborräumen mit variierten Bewegungskomponenten musikalisch improvisiert.
Die vier Laborräume waren:
Als Variablen werden in der Performance gleichmäßige, durchlaufende Bewegungen des Kopfes, vollkommen ungewohnte Positionen, einzelne Körperteile, von denen alle Spielimpulse ausgehen sollen und die Atmung als tragendes Element, verwendet.
In der Lecture Performance wird das Forschungsdesign erläutert und durch Improvisationen mit Interventionen aus den Laborräumen durchwebt.
»Meistens« »oft« »manchmal« »selten« – Solche Häufigkeitsadverbien sind fester Bestandteil der Satzlehre. Ihre kontextabhängige Bedeutung lässt jedoch großen Raum für Missverständnisse zu. Korpusstudien bieten eine Lösung an, indem sie einerseits den Kontext von vornherein festlegen, andererseits statistisch fundierte Aussagen ermöglichen. In der Fugenlehre können Aussagen wie »Meistens wird das Thema in der Dominante beantwortet« dadurch folgendermassen optimiert werden: »In den 160 Orgelversetten von F. Murschhauser, J. Fischer und Gottfried Muffat kommt eine Beantwortung in der Dominante in 66,9% der Fälle vor (n=442)«. In diesem Vortrag geht es darum die Ergebnisse genau dieser Korpusstudie von 160 Orgelversetten zu präsentieren und ihre Bedeutung für die Satzlehre auszuwerten.
Eine Vielzahl an Kriterien wurden in dieser Studie systematisch untersucht. Die 160 Versetten im Korpus wurden zu Beginn nach Taktart, Gesamtlänge, Anzahl der Themeneinsätze und Gesamtumfang kategorisiert. Auch die ersten und letzten Skalentöne von allen Fugenthemen, ihre Länge und ihr Tonumfang waren Bestandteil der Untersuchung. Die Ergebnisse entsprechen den zeitgenössischen Quellen: Alle Themen beginnen und enden mit Skalentönen 1, 3 oder 5. Als nächstes wurden sowohl »horizontale« als auch »vertikale« Dispositionen von dux (D) und comes (C) untersucht. Im gesamten Korpus gibt es nur fünf horizontale Dispositionen für die ersten vier Themeneinsätze: D-C-D-C (70,6%), D-C-C-D (20,6%), D-C-D-D (4,4%), D-D-C-C (3,1%) und D-D-C-D (1,3%). Die Art der Beantwortung weist ebenfalls eine klare Rangordnung auf: Dominante-real (36,4%), Dominante-tonal (30,5%), Subdominante-real (14,7%), Subdominante-tonal (12,2%), rückmodulierend-real (2,9%) und rückmodulierend-tonal (3,2%).
Solche Ergebnisse bieten Studierenden klare Richtlinien für ihre Stilkopien bzw. Analyse an. Die Festlegung des Korpus schützt auch gegen die Übergeneralisierung. Ein weiterer Vorteil ist, dass man beim Erstellen einer Statistik gezwungen wird die Kategorien, den Maßstab oder die Bedeutung von Begriffen präzise zu definieren. Dabei kommen Fragen auf, wie z. B. »Wie viele Töne müssen sich überlappen, um als Engführung zu gelten?« oder »Wo genau endet das Thema?« Im Endeffekt können die Kategorien bzw. Begriffe wertvoller als ihre Häufigkeits-Statistiken sein. Korpusstudien bergen aber auch Risiken, wie zu kleine Probengrößen oder den »Sein-Sollen« Fehlschluss.
George Rochberg’s philosophy of ars combinatoria is described as “standing in a circle of time, not a line,” making possible “movement in any direction” (Rochberg 132, 134). This paper presents three novel methods of tonal-atonal blend in music post-1970—flipping, repurposing, and evolving—which place tonality on the same plane as atonality; simply another harmonic language. Following Johnson’s article “Tonality as Topic,” I borrow “tonal figurae,” musical features that serve as signifiers of tonality’s essence (shown in slashes), such as /triads/, /consonance/, or /functional harmony/ (Johnson 2017). Considering Rochberg’s desire to use all information available, this paper introduces “atonal figurae,” which include \pitch-class set manipulation\, \serialism\, and \extended techniques\, among others (shown in backslashes). Previous scholarship has examined a tonal-atonal blend via analysis of a singular figura, such as /triads/ in Schnittke, \quotation\ in Rochberg, and \chromatic saturation\ in collage works (Segall 2017, Wlodarski 2019, Losada 2009). This paper recognizes multiple figurae simultaneously, revealing that the interaction of contrasting figurae creates a blended ars combinatoria.
This paper contains three analyses of works by William Bolcom, Christopher Rouse, and Frederic Rzewski, followed by an in-depth analysis of Rzewski's Winnsboro Cotton Mill Blues. In these examples, the three methods of ars combinatoria will be made evident. The “flipping” method is a rapid switch between opposing figurae, which weaves together tonal and atonal figurae much like flipping a light switch on and off. “Repurposing” consists of content originally seen in one figura recycled in a contrasting figura. Repurposing content allows greater motivic continuity than flipping—a single thread can be traced through all figurae utilized. The final ars combinatoria method, “evolving,” features figurae gradually morphing into contrasting figurae. Evolving requires a moment of ambiguity in which opposing figurae cross, one eventually overtaking the other.
Through the identification of both tonal and atonal figurae in a composition, I will show three methods in which composers attain Rochberg’s desired seamless blend. Comparing these techniques with collage and polystylism, I begin discussion on a largely ignored body of music, showing that those who strove for the ideals of ars combinatoria found usefulness in the handling of multiple harmonic languages.
Nach dem Vorbild der Aktivitäten des Professional Development Committee der US-amerikanischen Society for Music Theory finden im Rahmen der GMTH-Jahreskongresse seit dem Jahr 2022 berufsvorbereitende Workshops statt. Das diesjährige Angebot widmet sich dem Verfassen von Abstracts und Proposals für Konferenzen und richtet sich insbesondere an Studierende und Absolvent*innen des Fachs Musiktheorie sowie Personen im frühen Karrierestadium, steht aber auch allen anderen interessierten Kongressteilnehmer*innen offen. Im Anschluss an ein Impulsreferat der Workshopleiterin findet eine interaktive Diskussion mit offenem Erfahrungsaustausch statt.
Unter der Signatur Mus. ms. 261 hat sich in der Bayerischen Staatsbibliothek München ein Manuskript mit dem Titel Fundamentum Seu Cantus Firmus Praeambulandi erhalten, dass aufgrund seines Entstehungsortes unter der Bezeichnung „Rottenbucher Orgelbuch“ bekannt ist. Die offensichtlich Fragment gebliebene und auf 1760 datierte Handschrift geht zumindest in Teilen auf heute verschollene theoretische Schriften von Johann Ernst Eberlin, Salzburger Hoforganist, Hofkapellmeister und Freund Leopold Mozarts zurück.
Ihre Entstehung zu Unterrichtszwecken zeigt sich in zahlreichen Ratschlägen an einen fiktiven „Discipulus“, dem zum Erwerb der wichtigsten Fähigkeiten eines improvisierenden Klosterorganisten in Süddeutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts leicht memorierbare Modelle und zeittypische, „galante“ Ausgestaltungen an die Hand gegeben werden: Zunächst werden bezifferte „Fundamental-Bässe“ (im Sinne der italienischen Partimento-Tradition) als musikalische Bausteine mitgeteilt, die in einem zweiten Teil mit kunstvollen Variationes ausgestattet werden. Hieran schließen sich typische „Gänge“, Consecutiven, Sequenzen aus Dissonanzketten und Kanonsequenzen an, die in der Salzburger Tradition Johann Baptist Sambers nach Intervall-Species geordnet werden. Das „Rottenbucher Orgelbuch“ stellt einen für die „historisch-informierte Improvisationspraxis“ seltenen wie wohl glücklichen Fall dar, die seinerzeit meist nur mündlich überlieferten, stiltypischen Ausgestaltungen grundlegender Satzmodelle im herrschenden Zeitgeschmack schriftlich wiederzugeben (vgl. Petrus Eder OSB, Ars Praeambulandi – Salzburger Quellen zur Orgelimprovisation, in: Mozart-Jahrbuch 2014, S. 111–138, S. 121). Durch Auslassungen wie beispielsweise das Fehlen von Schlusskadenzen wird das selbstständige Fortführen gegebener Muster geübt. Schließlich werden die auswendig gelernten Bausteine als Exercitia praeambulandi zu Präludien und Versetten zusammengesetzt.
Im Nebeneinander von Modellen und „fertigen“ Kompositionen ermöglicht die Handschrift einen fruchtbaren Dialog zwischen improvisierter und aufgeschriebener Musik, im Rahmen dessen innerhalb ein und derselben Quelle das Verhältnis abgeschlossener „Werke“ zu ihren Entstehungsumständen reflektiert wird.
Im Rahmen des Beitrags soll untersucht werden, inwiefern unter dem Aspekt eines von künstlerischer Forschung geleiteten Handelns das „Rottenbucher Orgelbuch“ als historische Quelle auch heute noch Improvisierenden Methoden an die Hand zu geben vermag, die zu einem stilistisch sensiblen Umgang mit Satzmodellen innerhalb einer „historischer-informierten Improvisationspraxis“ führen können und inwieweit sich die dort vermittelten Verfahren auf andere Stilbereiche übertragen lassen.
Expectancy plays an important role in both language and music processing and its study has become a major topic in cognitive science research. Meyer (1956) first suggested that emotional responses to music in listeners are determined and triggered by the fulfillment of expectations. Lehrdahl and Jackendoff (1983) posited a musical grammar that explains the mental procedures under which the listener constructs an unconscious understanding of music -a model comparable to Noam Chomsky's transformational and generative grammar in the field of linguistics. In recent years, musical expectation has been introduced into the framework of modern cognitive science and has been studied empirically with behavioral and neural methods. Nevertheless, most of the research is usually restricted to tonal music.
For non-tonal music, I am working on combining these perspectives with others such as Sperber and Wilson (1986/1995) Relevance Theory, in the field of Linguistic Pragmatics, and the ITPRA Theory (Huron, 2006). Relevance Theory posits that the ostensive and mutually overt character of utterances automatically generates a set of expectations that guide the hearer towards the speaker's meaning; ITPRA Theory defends the phenomenon of surprise as a failure of expectation.
Since both music and language share the cognitive capacity to create expectations, the aim of this lecture, related to my PhD project, is to argue to what extent we can rely on and make use of linguistic theory regarding violation of expectations in non-tonal music contexts.
The correspondence between the composer's intention and the listener's interpretation in non-tonal music is often misunderstood or unclear. In order to understand this gap and considering that expectations create mental and behavioral patterns that help us to obtain a prior knowledge to anticipate and predict future events, the goal is to analyse which musical parameters are likely to form mental patterns in non-tonal music, so that future musical events and their respective expectations can be predicted and understood more clearly by listeners.
I will ilustrate this new theoretical framework through a case study directly linked to my artistic practice as a singer. I will present interpretative examples of several musical excerpts from Helmut Lachenmann's temA (1968).
Abstract
‘Artistic jazz research’, the currently leading type of jazz research, is largely modelled after artistic research in classical music, which itself is modelled after research methods in the sciences and in philosophy. Where music theory once reigned supreme, now ‘artistic jazz research’ has taken its place.
Is ‘artistic jazz research’ the right format for jazz in the 21st Century? The price paid for fitting into academia is adapting to traditional musicological approaches, to dutifully follow scientific research methods, and to subordinate to an outdated peer-review system.
For many in the jazz world, it is not offering the needed framework for jazz research. The direct link is missing to the practice of jazz, to the applicability of the outcome of the research in jazz performance and education. Jazz performance is real time, applied jazz theory. In ‘artistic research’ the link to music theory is seldom made.[1]
‘Applied jazz research’ offers an alternative to ‘artistic jazz research’:
Research that is fed by, and that is feeding jazz performance and jazz education.
Applied jazz research links to:
Instead of the outdated ‘blind peer review’ system, the ‘dynamic review system,’ is chosen. The world-wide jazz community is the forum to respond to, elaborate on, and evaluate the outcomes of applied jazz research.
The platform for ‘applied jazz research’ is the online ‘IASJ Journal’[2], published by Grand Valley State University Libraries.
Panel topics:
- Clarifying the terminology: artistic jazz research, applied jazz research, practice-based research, (ethno)musicology, popular music studies, etc.;
- The old review policy versus ‘dynamic peer review;
- Grand Valley State University Library and the IASJ, the Research Catalogue, music theory publishers, online/new media courses and applied jazz research;
- The differences between various types of jazz research in academies, conservatories, and universities;
- How to connect the current jazz research and jazz theory initiatives.
./.
[1] See ‘Journal for artistic jazz research’ published by Routledge; see the Research Catalogue
[2] See: https://scholarworks.gvsu.edu/iasj_journal/
Wie vermittle ich mitunter komplexe musiktheoretische Zusammenhänge im Musikunterricht? Vor der Beantwortung dieser Frage stehen Musiklehrer*innen in Laufe ihres Berufes immer wieder. Mit einem Blick auf den Stellenwert von Musiktheorie im Musikunterricht und die Zielsetzung des Unterrichts an Gymnasien in Thüringen lässt sich feststellen, dass hier eine Disparität besteht: Die fachspezifischen Kompetenzen (nach dem Konzept des aufbauenden Musikunterrichts), die im schulischen Kontext erlernt werden sollen, sind zwar bereits an einer musikalischen Praxis ausgerichtet, die damit im Zusammenhang stehenden musiktheoretischen Inhalte jedoch werden im Lehrplan lediglich genannt, aber nicht die fächerübergreifende Verknüpfung erläutert, welche dem Kompetenzerwerb innewohnt.
Dieser Vortrag befasst sich anhand eines Fallbeispiels mit der Frage nach einer interdisziplinären Verknüpfung von Bereichen der Musik und Bewegung, der elementaren Musikpädagogik sowie Musiktheorie und Musikanalyse im Musikunterricht in der gymnasialen Unterstufe. Nach der Erläuterung lerntheoretischer Aspekte und einem kurzen Überblick zu aktuellen Publikationen wird das didaktische Konzept einer interdisziplinär ausgerichteten Unterrichtssequenz vorgestellt.
Anhand von zwei Kompositionen Wolfgang Mozarts und Ludwig van Beethovens soll die Rondoform und ihre verschiedenen syntaktischen Spielarten, das hörende Erkennen von Ritornell und Couplets, die hörende Wahrnehmung von musikalisch Gleichem und musikalisch Unterschiedlichem in den Formabschnitten eines Rondos, sowie eine kreative Umsetzung der Musik durch Bewegung vermittelt werden. An Methodik und Aktionsformen werden zur Vermittlung bewegungsbezogenes Erleben von Musik, schöpferisch-kreative Arbeit im Umgang mit Bewegung zur Musik in der Gruppe und die kreative grafische Darstellung der musikalischen Form des Rondos beim Hören verwendet. Ausgehend von den Aktionsformen sollen dann die von den Schülern durch die Praxis erworbenen Fähigkeiten sowie Kompetenzen verbalisiert, reflektiert und auf einer theoretischen Wissensebene abstrahiert werden. Die dokumentierten Resultate aus der Schulpraxis werden vorgestellt und anschließend reflektiert.
Literatur:
Das musiktheoretische Schaffen Pierre-Joseph Roussiers (1716-1792) ist bis heute, gerade im deutschsprachigen Raum, wenig erforscht und rezipiert. So findet sich beispielsweise weder ein Eintrag zu seiner Persönlichkeit, noch zu seinen Schriften im MGG; im New Grove Dictionary ist lediglich eine knappe Zusammenfassung seines Schaffens aufgeführt. Die einzige Publikation, die sich ausführlich und ausschließlich mit seinem Werk befasst, ist die Dissertation von Richard D. Osborne, die 1966 an der Ohio State University veröffentlicht wurde: „The Theoretical Writings of Abbé Pierre-Joseph Roussier“.
Dabei handelt es sich bei Roussier um einen Musiktheoretiker, der die Ideen seines berühmten Kollegen Jean-Philippe Rameau in seinen eigenen musiktheoretischen Abhandlungen nicht nur aufgriff, sondern auch weiterentwickelte, und der zugleich in den lebhaften Diskussionen und der Musikforschung seiner Zeit mit den Enzyklopädisten eine wichtige Rolle spielte, wie ein an ihn gerichteter Brief von Jean-Jacques Rousseau belegt.
Sein Hauptwerk, der 1764 bereits mehrfach aufgelegte „Traité des Accords et de leur Succession selon le Système de la Basse-Fondamentale“, bietet einerseits eine kompakte Übersicht und Zusammenfassung des musiktheoretischen Systems des späten Rameaus, andererseits weist er mit der Vorstellung von „nouveaux accords“ im letzten Abschnitt – die auch an die Akkordlehre von Georg Andreas Sorge erinnern – eine zukunftsweisende Blickrichtung auf.
Die Rezeption der von Carolyn Ellis (2004) oder Heewon Chang (2008) in die Anthropologie und Soziologie eingeführten qualitativen Methoden der Autoethnographie im musikalischen Bereich betrifft vor allem narrative Analysen von Musiker*innen (Crispin 2021), Dirigent*innen (Bartleet 2009), Komponist*innen (Dethloff 2005) und Musikpädagog*innen (Wiley 2021). Neben den Anregungen aus Anthropologie und Soziologie werden die Forschungsmethoden auch mit der von der Psychologie beeinflussten und durch Julius Bahles in Umlauf gebrachten Schrift Der musikalische Schaffensprozess (1936) und deren Kritik in Beziehung gesetzt, um die Stärke (Analyse des Analysierens als Artistic Research) und Schwäche (Analyse des Analysierens als Pseudoforschung) der musikalischen Autoethnographie zu erörtern.
Eine Einbeziehung der Autoethnographie in die musikalische Analyse fehlt bis heute, vermutlich aus dem Grund, dass die Analyse als wissenschaftliches Fach wahrgenommen werden kann, in dem ein Subjekt der Analyse größtenteils vermieden wird, um die Objektivität der Analyse zu gewährleisten. Demgegenüber steht eine Darstellung der Analyse als künstlerisches Fach mit einem*einer aktiven Analysierenden, der*die sich selbst im Schaffensprozess während des musikalischen Analysierens mit eigenem »Wissen-im-Tun« und gleichzeitig »Lernen-im-Tun« (vgl. Dewey 1916; Huber 2021) begleitet und damit einhergehend quasi parallel ein Kunstwerk durchspielt, sich in dieses hineinhört, mitdenkt bzw. mitkomponiert.
Ein Schaffensprozess des musikalischen Analysierens und Komponierens wird für diesen Beitrag in Form eines Tagebuchs aufgezeichnet – als ein Versuch, eine eigene Erfahrung der Wissensgenerierung (»Self«) mit dem kulturellen, sozialen und politischen Milieu (»Other«) zu verbinden. Während einer gewissen Zeitspanne soll Isabel Mundrys Noli me tangere (2020) regelmäßig analysiert und gleichzeitig eine Komposition namens Virtues and Vices geschrieben werden, die als ein produktives Erlebnis des Analysierens im Sinne Mundrys (2022) gelten soll: »Wenn ich Gesten schreibe, die an späteren Stellen wiederkehren, kommen sie mir fast wie Fremde entgegen, weil die Musik inzwischen an einem anderen Ort ist und ich zusammen mit ihr weitergezogen bin. Sie sind mir nah und fern zugleich. Im Grunde könnte ich das Stück nach diesem Prinzip auch gemeinsam mit anderen Komponist*innen schreiben oder in Beziehung zu anderen Ausdrucksformen stellen, die ich nicht kenne oder kaum verstehe. Es ist ein Prinzip, das eine Sogkraft entfaltet, sich dem Anderen oder Fremden zu öffnen.«
Das performative und konzeptuelle Potenzial des menschlichen Körpers ist seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend in den Fokus künstlerischer Auseinandersetzung gerückt, wo es sich, von ausführlicher ästhetischer und wissenschaftlicher Reflexion begleitet, heute als selbstverständliche Kategorie etabliert hat. Der Sammelband "Körper(-lichkeit) in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts" (Bielefeld: transcript 2023) setzt sich mit diesem komplexen und diversen Themenfeld auseinander, indem er sich kompositorischen und performativen Konzepten widmet, in welchen der menschliche Körper nicht nur als Mittel zum Zweck der Klangerzeugung eingesetzt und als nebensächlich verstanden wird, sondern in welchen dessen Ausdrucks- und Bewegungsmöglichkeiten im Zentrum künstlerischer Überlegungen stehen. Mit dieser Perspektive setzt der Band einen Schwerpunkt, der ihn von anderen Sammelpublikationen der vergangenen Jahre abhebt, deren Beiträge sich eher musikpsychologischen, kultursoziologischen und musikpädagogischen Aspekten etwa des körperlich-leiblichen "Erlebens" und "Verstehens" von Musik, korporaler Kompetenz- und Identitätsstiftung oder der Rolle des Körpers als Medium des Wissenstransfers in Geschichte und Gegenwart widmen (z. B. Hiekel/Lessing 2014, Oberhaus/Stange 2017, Hoppe/Müller 2021). Durch Annäherung aus unterschiedlichen wissenschaftlichen sowie künstlerisch-wissenschaftlichen Disziplinen, den Einbezug interdisziplinärer Ansätze sowie die Beschäftigung mit verschiedenen Musiktraditionen und -genres liefern die enthaltenen Beiträge eine umfangreiche Erörterung der Thematik "Körper" bzw. "Körperlichkeit" in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, womit Forschenden auch ein breites methodisches Instrumentarium für künftige Studieren an die Hand gegeben wird.
In unserer Präsentation geben wir einen Überblick über die Hintergründe und die Beiträge des Sammelbandes, um das große Spektrum an Inhalten zumindest kursorisch zu vermitteln. Dieses reicht von Analysen ausgewählter Werke eines*einer Komponist*in (Luciano Berio, Helmut Lachenmann, Chaya Czernowin, Steve Reich) über Dimensionen unmittelbaren körperlich-performativen Ausdrucksvermögens (Jörg Widmanns Instrumentalbehandlung, Cathy Berberians Vokalität, Extreme Metal) bis hin zu gesellschaftlich-sozialen Extrembereichen wie etwa physischen oder psychischen Leidens- und Traumaerfahrungen sowie körperlicher Beeinträchtigung als Ausgangspunkt für künstlerisches Wirken (Beiträge zur Auseinandersetzung mit erfahrener sexuellenr Gewalt, zu körperlicher Behinderung sowie zu Ritualen der Selbstverletzung im südwest-iranischen Vokalgenre Laṭmiyeh. Der Vortrag wird durch Bild- und Videobeispiele aus dem Band aufgelockert, die zugleich aber auch die performativen Aspekte der jeweiligen Themen punktuell herausstellen.